Eine Stadt trauert um einen kritischen Bürger und blitzgescheiten Kopf

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wie, gestern hat man ihn doch noch gesehen, den immer schmaler und durchsichtig werdenden Herrn Professor, der so gar nichts Professorales an sich hatte, dafür aber einen immer wachen Blick und eine für jede Situation das Hirn schärfende Bemerkung zu dem, was man gemeinsam sah oder hörte.

 

Nein, überlegt man sich das richtig, so fehlte er in letzter Zeit bei den Diskussionen und Veranstaltungen, wo einem seine Anwesenheit immer weitergeholfen hatte, entweder, weil man sich in der spöttisch-kritischen Einschätzung einig war, oder weil man zusammen begeistert war. Mit dem Tode des verehrten Iring Fetscher wird man einsamer. Das ist gewiß. Und es wird mir fehlen, nach solchen Veranstaltungen nicht mehr gemeinsam mit der U-Bahn nach Hause zu fahren und ihn des Weges zu geleiten.

 

Aber der eigene Bezug zu Iring Fetscher ist Privatsache und auch die vielfachen Querverbindungen sollen nur angedeutet werden, als die Tochter von Freunden aus Mexiko beispielsweise ihn als Doktorvater aussuchte und nach Frankfurt kam. Allerdings ihren mexikanischen Verlobten, einen reichen Jungen, mit im Gepäck. Der sollte, während sie promovierte Tennis spielen. Wie Fetscher darauf reagierte, ist ein ganz anderes Kapitel. Die lernwillige junge Dame aus Mexiko, übrigens die Enkelin von deutsch-ungarischen Juden, die erst nach Argentinien gegangen waren und dann – wie viele – nach Mexiko soll nur als Beispiel dienen: So bekannt war unser Frankfurter Politologe im Ausland. Und so geschätzt auch. So manchen Studenten haben wir vermittelt. Aber dennoch selbst am meisten von ihm gelernt.

 

Von seinem Tod sind die Stadt und ihre Repräsentanten auch deshalb ge- und betroffen, weil er einer war, der sich einmischte in die örtlichen Dinge, in die Politik, in die Geschehnisse der Sozialdemokratie, deren alter und hier: allerhöchstkritischer Genosse er blieb. Er nahm kein Blatt vor den Mund und dennoch beleidigte er die Kritisierten niemals, denn in seiner offenen, ironisch-pointierten Art war der gute Wille, die Welt besser, klarer, gerechter und demokratischer zu machen immer herauszuspüren.

 

 

Reaktionen in der Stadt

 

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler und Oberbürgermeister Peter Feldmann haben in einem gemeinsamen Brief an die Hinterbliebenen zum Tode von Professor Iring Fetscher kondoliert.


In dem Schreiben heißt es: „Die Nachricht vom Tod Ihres Vaters, Herrn Professor Iring Fetscher, der im hohen Alter von 92 Jahren verstorben ist, hat uns mit Betroffenheit und Trauer erfüllt. Zu diesem schweren Verlust sprechen wir Ihnen und der ganzen Familie im Namen der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main unser tief empfundenes Beileid aus.

Iring Fetscher war einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler und Publizisten unserer Zeit. Über zwei Jahrzehnte, von 1963 bis 1987, lehrte er an der Johann Wolfgang Goethe-Universität unserer Stadt, wobei er sich vor allem der politischen Theorie und Ideengeschichte angenommen hat, wichtige wissenschaftliche Studien über Rousseau, Hegel und Marx eingeschlossen. Darüber hinaus führten ihn verschiedene Gastprofessuren unter anderem an Eliteuniversitäten in New York, Tel Aviv oder Cambridge.

Weit über seine wissenschaftlichen Fachgebiete hinaus war Iring Fetscher publizistisch tätig und initiierte immer wieder öffentliche Debatten zu aktuellen Themen. In diesem Zusammenhang wurden seine wichtigen Beiträge national und international sowie über Parteigrenzen hinweg anerkannt. Unvergessen ist dabei auch seine Mitwirkung bei den Römerberggesprächen.

Unsere Stadt verliert mit Iring Fetscher eine der Persönlichkeiten, denen Frankfurt am Main seinen Ruf als Ort der intellektuellen Brillanz und der kultivierten Debatte auf höchstem Niveau verdankt. Nicht zuletzt hierfür erhielt er zahlreiche hochrangige Auszeichnungen, darunter im Jahr 1992 die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Die Körperschaften der Stadt werden Iring Fetscher ein dankbares und ehrendes Andenken bewahren.“

 

 

Auch Kulturdezernent Felix Semmelroth hat mit großer Betroffenheit auf den Tod des Politikwissenschaftlers Iring Fetscher reagiert, der am Samstag verstarb.

„Mit Iring Fetscher verliert Frankfurt einen großen Intellektuellen, der weit über seine Professur an der Goethe-Universität hinaus die Öffentlichkeit prägte. Als Politikwissenschaftler und Sozialphilosoph beschäftigte er sich vor allem mit Studien über Rousseau, Hegel und Marx. Akademische Maßstäbe setzte er u. a. mit seinem zusammen mit Herfried Münkler verfassten fünfbändigen Handbuch der politischen Ideen.

Sein Forschungsinteresse galt jedoch nicht nur politischer Theorie und Ideengeschichte. Mit seinem sogenannten Märchenverwirrbuch „Wer hat Dornröschen wachgeküsst?“ erreichte er eine große Leserschaft, indem er bekannte Märchenfiguren tiefenpsychologisch neu deutete und damit auf eine witzig-ironische Art ihre Relevanz für die Innenwelt von uns Heutigen bewies. Dem Theater war er sehr zugetan und ein häufiger Gast im Frankfurter Schauspiel. Sein kritischer, differenzierender Geist und sein unbestechlicher Blick, Eigenschaften, die nicht nur seine wissenschaftliche und menschliche Reputation begründeten, sondern ihm auch eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zur Zeit des Nationalisozialismus ermöglichten, werden sehr fehlen.

Mein tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie. Frankfurt wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.“

 

Wer diese Zeilen genau liest, der hört heraus, daß auch die Stadtoberen mit dem Tod von Iring Fetscher einen herausragenden Bürger und ihnen nahen Menschen verloren haben.