Siegbert Wolf arbeitet seit zwölf Jahren an der Chronik der Stadt Frankfurt

 

Anja Prechl

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Vom Besuch John F. Kennedys bis zum ersten Suchtag zur Abwehr des Kartoffelkäfers – mehr als hunderttausend Einträge in die Chronik Frankfurts hat der Historiker Siegbert Wolf in den vergangenen Jahren vorgenommen. Beinahe täglich werden es mehr. Am Institut für Stadtgeschichte kann man die großen und alltäglichen Daten der Stadtgeschichte einsehen und damit in vergangene Zeiten reisen.

 

Ein niedriger 70er Jahre Schreibtisch in einem Durchgangszimmer des Instituts für Stadtgeschichte (ISG). Papierduft hängt in der Luft, auf Aktenschränken stehen graue Ordner. Mappen, Ausschnitte, ein Bildschirm. Hier entsteht die Chronik der Stadt Frankfurt am Main. Ein, zwei, drei oder noch mehr Einträge für jeden einzelnen Tag zwischen 2006 und 1894 – Siegbert Wolf trägt sie seit zwölf Jahren zusammen.

 

Zu sagen, kaum einer kennt Frankfurt und seine jüngste Geschichte besser als der promovierte Historiker, ist wohl kaum zu viel behauptet. An drei Tagen in der Woche blättert Siegbert Wolf durch sämtliche Ausgaben der lokalen Presse, sichtet Einträge in den Sammlungen „Personen“ und „Lokale Ereignisse“ des ISG, prüft Nachlässe, Vereins- und Firmenarchive, liest Magistrats- und Stadtverordnetenprotokolle. Messen, Besuche bedeutender Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland, Kriminalfälle, spektakuläre Sportveranstaltungen, Konzerte, Unwetter, Unfälle, Gerichtsverfahren – alles, was für die Stadt von Bedeutung ist, erhält einen Eintrag in die Chronik: Tag, Monat, Jahr sowie eine kurze Beschreibung der Begebenheit.

 

 

Unvergessliche Ereignisse

 

Ich lerne täglich etwas Neues. Das ist doch der Sinn der Arbeit, etwas zu lernen“, sagt Siegbert Wolf, der neben seinem Job am ISG auch als Politologe und Publizist mit den Schwerpunkten Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts tätig ist. Die großen Ereignisse wie die Eröffnung des Waldstadions 1925, die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs, der Bau der ersten U-Bahn, der Besuch John F. Kennedys im Jahr 1963, die Wasserschlacht während der Fußballweltmeisterschaft 1974, die Demonstrationen gegen die Startbahn West – freilich sind sie Wolf geläufig, viele verbindet der 61-Jährige mit persönlichen Erinnerungen.

 

Geht es in den historischen Artikeln und Berichten aber um Persönlichkeiten und Berühmtheiten vergangener Tage, stellt Wolf Nachforschungen an. „Man kann nie alles wissen“, sagt er. Was er nicht weiß, muss er prüfen: Ist Wolf ein Name nicht geläufig, zieht er die Personensammlung des ISG zu Rate. Ist das Gründungsjahr eines Vereins niedergeschrieben, nicht aber der Tag, oder stolpert er in der Zeitung über das Wort „unlängst“, geht Wolf auf Spurensuche.

 

 

Gelebte Geschichte

 

Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto mehr verringert sich die Datenlage“, sagt Wolf. Der Rechercheaufwand sei allerdings derselbe wie bei der Auswertung jüngerer Tage: Im Jahr 1900, Frankfurt hatte rund 300.000 Einwohner, passierte in der Stadt zwar weniger als nach 1945, doch gaben die Gazetten zu dieser Zeit täglich fünf bis sechs Ausgaben heraus. Je älter die Zeitungen, desto säurehaltiger und damit auch empfindlicher das Papier. Wolf behandelt sein Recherchematerial penibel, vorsichtig. Keine Papierberge auf dem Schreibtisch, keine Kaffeetasse. Jede Seite ist ein Zeitdokument, das, käme es zu Schaden oder würde es falsch einsortiert, kaum ersetzt oder wieder gefunden werden könnte.

 

Bei seiner Lektüre stößt Wolf auf Berichte, die aus heutiger Sicht mitunter banal erscheinen mögen: Das Wetter sämtlicher Neujahrsnächte, die Ankündigung vom 10. Juni 1941 zum „ersten Suchtag zur Abwehr des Kartoffelkäfers basierend auf der 9. Verordnung zur Abwehr des Kartoffelkäfers vom 22. April 1941“, der Auftritt von Hildegard Knef 1954, die Explosion in der Schnellreinigung Erwin Schmitt 1960, die „Stehparty, mit der 20.000 Frankfurter in der Neujahrsnacht 1999 den Euro begrüßt haben“, die Schließung des Bockenheimer Kaufhofs im Jahr 2000. Jenseits der großen Geschehnisse wird Alltägliches jedoch zu einer Kostbarkeit, die erzählt, was die Frankfurter bewegt und die Stadt unter Umständen verändert hat. „Es ist gelebte Geschichte“, sagt Wolf.

 

 

Permanenter Wandel

 

Betrachte man das Große und Ganze, befinde sich Frankfurt in einem ständigen Wandel. „Ich kenne die Stadt nicht ohne Bauzäune“, sagt Wolf, der in Grebenhain geboren und in Frankfurt groß geworden ist. „Jemand, der heute hierher kommt, kann sich nicht im Geringsten vorstellen, wie die Stadt vor 60 bis 80 Jahren ausgesehen hat.“ Da ist die Altstadt, in deren Bebauung bereits vor den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs eingegriffen wurde, um die engen dunklen Gassen lichter zu machen. Da sind Gebäude wie der Uni-Turm oder das Technische Rathaus, die nur 40 Jahre lang das Gesicht der Stadt prägten. „Frankfurts Kern ist geografisch sehr begrenzt, daher tut sich baulich ständig etwas.“ Und immer haben die Zeitungen das Baugeschehen dokumentiert und kommentiert.

 

 

Große Entscheider

 

Frankfurt, das gehe aus den Berichten hervor, erhebe für sich den Anspruch, eine Metropole zu sein. Kulturell habe die Stadt diesen Status seit Jahrzehnten. Die Chronik-Einträge beweisen es: Schon in den ersten Jahren von Wolfs Recherchezeitraum traten auf den Bühnen die bekanntesten Schauspieler, Sänger und Orchester auf. In den 1980ern setzen Oberbürgermeister Walter Wallmann und Kulturdezernent Hilmar Hoffmann mit dem Museumsufer einen weiteren Meilenstein für die nationale und internationale Wahrnehmung Frankfurts als Kulturmetropole.

 

Wolf: „Eine Stadt muss seinen Bewohnern etwas bieten, sonst ziehen sie weg.“ Das wussten bereits die Oberbürgermeister und Stadtplaner der Jahrhundertwende: Unter Oberbürgermeister Adickes wurden viele Grünanlagen und Promenaden wie etwa der Alleenring angelegt, große Industriebetriebe hielt man von der Innenstadt fern, siedelte sie stattdessen in Vororten wie Höchst und Fechenheim an, die man dann eingemeindete. Franz Adickes, Ludwig Landmann, Walter Kolb – „Leuchttürme in der Stadtgeschichte“ nennt der Historiker diese drei ehemaligen Frankfurter Stadtoberhäupter. Ein herausragendes Ereignis ist für ihn die 1.200 Jahr Feier der Stadt 1994.

 

 

Zeitliches Ziel

 

Pro Jahr bearbeitet Siegbert Wolf zehn Chronikjahre, inzwischen enthält das Werk mehrere hunderttausend Einzeleinträge. „Es ist ein work in progress“, erklärt Wolf. Auch Jahre, die er bereits abgeschlossen hat, kann er immer wieder ergänzen. Eine Chronik zu erstellen, sei eine der Grundaufgaben eines Stadtarchivs. „Unser zeitliches Ziel ist 1866“, erklärt Wolf. Das Jahr, in dem Frankfurt im preußisch-österreichischen Reichseinigungskrieg seinen Status als Freie Stadt verlor. Übergeordnetes Ziel ist ein umfassendes Online-Geschichtsbuch: Sämtliche Einträge sollen mit weiterführenden Links und Bildern versehen ins Internet gestellt werden.

 

Doch das ist Zukunftsmusik. Noch steckt die Chronik zwischen den grauen Deckeln mehrere Aktenordner, die jeder Interessent im ISG einsehen kann. In ihnen zu blättern, ist wie eine Zeitreise. Zu den großen und kleinen, zu den einschneidenden und alltäglichen Ereignissen, durch die gelebte Geschichte der Stadt Frankfurt am Main.

 

Foto: Siegbert Wolf im Archiv © Heike Lyding/PIA.