Filmheft
Berlin (Weltexpresso) – Anfangs stützten sich Chadha und ihr Co-Autor und Ehemann Paul Mayeda Berges bei ihren Recherchen auf das Buch „Freedom at Midnight“ (1975) von Larry Collins und Dominique Lapierre. „Ihre Abhandlung über die letzten Jahre der britischen Herrschaft in Indien ist ein bedeutender Beitrag über die Teilung des Landes“ sagt Chadha über eins der Lieblingsbücher ihres Vaters.
Doch eine Begegnung mit Prinz Charles, dem Großneffen Mountbattens, lenkte ihren Fokus auf eine weitere Lektüre. „Ich begegnete ihm im St. James Palast bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung des British Asian Trust, dessen Schirmherr er ist. Ich bin Botschafterin der Stiftung. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihm von meinem Filmprojekt zu erzählen. Prinz Charles empfahl mir daraufhin das Buch ‚The Shadow of the Great Game‘ von Narendra Singh, dem Maharadscha von Sarila und Mountbattens damaligen persönlichen Berater. Darin stünde, was sich damals tatsächlich zugetragen hat, erklärte mir Prinz Charles.“
Wie der Zufall es wollte, wurde Chadha nur wenige Tage später von einem jungen aufstrebenden Schauspieler in Indien angesprochen, als ihr Film IT’S A WONDERFUL AFTERLIFE dort Premiere feierte. Es stellte sich heraus, dass er der Sohn von Narendra Singh ist. „Er hatte davon gehört, dass ich einen Film über die Teilung Indiens plante und überreichte mir das Buch seines Vaters!“. Jahre später wurde er dafür mit der Rolle von Mountbattens Berater belohnt.
Wenige Tage später traf sich Chadha mit dem Autor Narendra Singh in einem Club in St. James. Singh war inzwischen ein hochrangiger indischer Diplomat, der 20 Jahre als indischer Botschafter in Frankreich Dienst geleistet hatte. Er erzählte ihr, dass er 1997 bei Recherchen für ein anderes Buch in der British Library auf zwei Dokumente von 1945/47 gestoßen war, die bislang als streng geheim klassifiziert worden waren. Darin fanden sich Belege, dass die britische Regierung Bedenken hatte, Indien abzugeben. Sie schmiedete Pläne, Nordindien zu annektieren, um britische Interessen zu wahren und es als Militärstützpunkt zu nutzen. Singh fand auch eine Karte von 1946, auf der die britische Regierung den Verlauf der Teilungslinie eingezeichnet hatte. Daraus folgerte der Autor, dass England entgegen der öffentlich zur Schau gestellten Neutralität insgeheim Jinnahs Idee der Teilung unterstützte, um sich am Persischen Golf den Zugang zum Öl zu sichern und sich gleichzeitig der Sowjetunion in den Weg zu stellen, falls eine linksgerichtete, russlandfreundliche indische Regierung an die Macht kommen sollte. Jinnahs Plan sah vor, einen von Indien separaten muslimischen Staat zu gründen. Dies wollten die Briten unterstützen - in der Hoffnung, dass dieser neue Staat ihnen aus Dankbarkeit dabei helfen würde, ihre Interessen in der Region zu wahren. Doch Singh war überzeugt davon, dass Mountbatten in diesen Plan nicht eingeweiht war.
„Diese Enthüllung veranlasste uns, die Geschichte in eine ganz andere Richtung neu zu entwickeln“, erläutert Chadha. „Dafür holten wir uns eine zusätzliche Co-Autorin – Moira Buffini (JANE EYRE). Mountbatten war für uns nicht mehr der machiavellistische Architekt der indischen Teilung, sondern ein Mann, der unwissentlich zum Spielball versteckt agierender politischer Mächte wurde.“ Das widerspricht der gängigen Auffassung vieler Inder, die Mountbatten vorwerfen, Indien zerstört zu haben. „Es wird schwer sein, Anhänger dieser weit verbreiteten Sichtweise von meiner Interpretation zu überzeugen. Doch ich habe die Dokumente selbst gelesen und mit Leuten gesprochen, die damals Vertraute Mountbattens waren. Ich bin mir sicher, dass ich nicht die Letzte sein werde, die die Ereignisse von 1947 neu bewertet. Mein Film wird sicherlich die Diskussion zu diesem Thema anheizen.“
Abgesehen von Mountbatten wollte Chadha auch die anderen Protagonisten möglichst fair darstellen. „Mir war besonders wichtig, dass weder Hindus, Muslime noch Sikhs zum alleinigen Sündenbock für die gewaltsamen Zusammenstöße während der Teilung gemacht werden. Ursache dafür war vielmehr eine lange Kette hochgradiger Fehler aller Beteiligten. Mir war wichtig, eine Sprache der Versöhnung anzustimmen, die Pakistaner, Inder und Briten gleichermaßen erreicht. Der Film richtet sich sowohl an das Herz als auch den Verstand. Um ein größeres Publikum zu erreichen, musst du Aufklärung mit Unterhaltung paaren. Deshalb habe ich mich entschlossen, die politischen Ereignisse mit einer Liebesgeschichte zu unterfüttern. Selbst wenn die Welt um uns herum auseinanderbricht, ist die Sehnsucht des Menschen nach Liebe nicht unterzukriegen.“
Der Film erzählt sowohl die politischen Ereignisse um die real-historischen Politiker, als auch die emotionalen Befindlichkeiten der Dienerschaft, mit besonderem Fokus auf die fiktionale Romanze zwischen dem Hindu Jeet (Mountbattens Kammerdiener) und der Muslima Aalia (Dolmetscherin von Mountbattens Tochter Pamela).
Foto: © tobis.de
Info:
Gurinder Chadha
Indien / Großbritannien 2016
Englisch
106 Min · Farbe
Mit
Hugh Bonneville (Lord Mountbatten)
Gillian Anderson (Lady Mountbatten)
Manish Dayal (Jeet)
Huma Qureshi (Aalia)
Om Puri (Noor)
Michael Gambon (Ismay)
Simon Callow (Radcliffe)
Lily Travers (Pamela Mountbatten)
Stab
Regie
Gurinder Chadha
Buch
Gurinder Chadha, Paul Mayeda Berges, Moira Buffini
Kamera
Ben Smithard
Schnitt
Victoria Boydell, Valerio Bonelli
Musik
A. R. Rahman
Sound Design
Glenn Freemmantle
Ton
Nakul Kamte
Production Design
Laurence Dorman
Kostüm
Keith Madden
Maske
Jacqueline Fowler
Regieassistenz
Lance Stuart Roehrig
Biografie
Gurinder Chadha
Geboren 1960 in Kenia als Tochter indischer Eltern, aufgewachsen in London, wo sie zunächst als Radioreporterin für die BBC tätig war. Anschließend drehte sie preisgekrönte Dokumentarfilme für das British Film Institute, BBC und Channel Four. Auch ihr Spielfilmdebüt Bhaji on the Beach wurde mehrfach ausgezeichnet. Internationaler Durchbruch mit Bend it like Beckham, der sowohl national als auch im Ausland ein großer kommerzieller Erfolg war. Für ihre Verdienste in der Filmwirtschaft wurde Chadha 2006 zum Officer des Order of the British Empire (OBE) ernannt.