f indien1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. August 2017, Teil 8

Filmheft

Berlin (Weltexpresso) – Die Teilung Indiens 1947 ist eng mit Gurinder Chadhas eigener Biografie verbunden, auch wenn sie erst dreizehn Jahre nach der Abspaltung Pakistans geboren wurde – in Nairobi, Kenia. Die britisch-indische Filmemacherin wuchs in West London auf, im „Schatten dieser Teilung“, wie sie selbst sagt. Ihre Vorfahren jedoch lebten im Vorgebirge des Himalaja, das nach der Teilung auf der pakistanischen Seite lag. Mit dem Ausbruch plötzlicher Gewalt zwischen Indiens muslimischer Minderheit, die ihren eigenen Staat herbeisehnte, und den Hindus und Sikhs, die die Mehrheit stellten, wurden Chadhas Großeltern direkt konfrontiert. Der Konflikt endete in der größten Flüchtlingskrise, die die Welt je sah. Vierzehn Millionen Menschen verloren während der Teilung Indiens ihre Heimat und wurden vertrieben. Und auch wenn die Unabhängigkeit Indiens sowie die Gründung der Republik Pakistan für viele ein Grund zum Feiern war, so brachte der Prozess selbst furchtbares Leid für Hindus, Muslime und Sikhs gleichermaßen.

Chadha hat bereits in der Vergangenheit ihre persönliche Erfahrung meist in humoristischer Form erfolgreich verarbeitet – von ihrem Debütfilm BHAJI ON THE BEACH 1993 bis hin zum Kassenschlager KICK IT LIKE BECKHAM in 2002. An die tragischen Aspekte ihres kulturellen und familiären Hintergrundes traute sie sich als Filmemacherin damals noch nicht heran. „Das war mir zu düster, zu traumatisch“, erklärt sie.

2005 steuerte Chadha einen Beitrag zur BBC-Doku-Reihe „Who Do You Think You Are?“ bei, die Familienstammbäume erforscht. Plötzlich befasste sie sich intensiv mit der Heimat ihrer Vorfahren. „Meine Gefühle hinsichtlich Pakistan waren eher verhalten“, erinnert sie sich. „Als wir in Pakistan meine Ankunft drehten, nannte ich es ,das Indien vor der Teilung’. In Jhelum fand ich das Haus meiner Großeltern.“ Chadha war überrascht von der Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit, mit der ihr die Pakistaner begegneten. „Und als ich die älteren Menschen fragte, wie lange sie schon dort leben und ob sie meine Großeltern kannten, bekam ich immer wieder zu hören: ‚Ich kam 47 hierher.’ Das hat mich sehr bewegt. Eine ganze Sikh-Gemeinde war aus Pakistan vertrieben worden. Ihren Platz nahm eine muslimische Gemeinde ein, die wiederum in Indien aus den Häusern ihrer Vorfahren vertrieben worden waren. Da wurde mir klar, was die Teilung Indiens für die Menschen damals tatsächlich bedeutet haben muss.“

Chadha realisierte, dass sie sich ihren Ängsten stellen musste. „Ich entschloss mich, einen Film über die Teilung des indischen Volkes zu machen. Ich wollte mich nicht darauf beschränken, wie es zur Teilung kam und das politische Gerangel darlegen. Ich wollte dem Publikum zeigen, welche Wirkung diese Teilung vor allem auf die indische Bevölkerung hatte.“

Chadha wählte als Handlungsort der Geschichte das Haus des Vizekönigs von Indien, den Regierungssitz von Britisch-Indien in Delhi, um die Verhandlungen zwischen dem englischen Vizekönig Lord Mountbatten und den politischen Führern Nehru, Gandhi und Jinnah aus der Perspektive des Hauspersonals zu zeigen. In ihren Hoffnungen und Befürchtungen, ihren lebhaften Diskursen darüber, welche Folgen die politischen Verhandlungen in den Räumen des Hausherrn für ihr eigenes Leben haben werden, spiegeln sich sogleich die Sorgen der gesamten indischen Bevölkerung in jener Zeit.

„Das Haus des Vizekönigs wird im Film fast zu einer eigenständigen Persönlichkeit“, so Chadha. „Es wurde nach einem Entwurf von Lutyens über einen Zeitraum von 17 Jahren gebaut. Die imposante Architektur war ein Sinnbild der imperialen Macht und diente der Einschüchterung. Als es 1929 fertiggestellt wurde, konnte sich bestimmt niemand vorstellen, dass 20 Jahre später der erste Präsident Indiens dort Einzug halten würde. Es ist bis heute der größte Regierungssitz, den es weltweit gibt!“

Als Chadhas Idee für den Film konkrete Formen annahm, wandte sie sich an Cameron McCracken, Geschäftsführer der Produktionsfirma Pathé in England. Er sollte ihr dabei helfen, weitere Partner ins Boot zu holen. Auf englischer Seite beteiligten sich die BBC, das BFI und Ingenious. Und mit Reliance, dem größten Medienunternehmen Indiens, fand sich auch ein indischer Co-Produzent. Deepak Nayar kam als Ausführender Produzent an Bord. Chadha freute sich, diese einst bei historischen Stoffen sehr erfolgreiche, aber inzwischen selten gewordene filmische Zusammenarbeit zwischen England und Indien reaktivieren zu können und sieht ihren Film in der Tradition bedeutender Filme wie David Leans REISE NACH INDIEN (1984) und Richard Attenboroughs GANDHI (1982).

„Ich liebe diese bildgewaltigen filmischen Epen britischer Prägung“, gesteht Chadha. „Ich finde es schade, dass wir solche Filme kaum noch machen, denn sie haben uns dazu angeregt, uns als Nation zu definieren und zu reflektieren. Indem sie die Geschichte unserer Nation zeigen, helfen sie uns dabei, unsere gegenwärtige Situation besser zu verstehen. Genau das wollte ich mit meinem Film erreichen, indem ich meinen Zeitgenossen ein immens wichtiges Ereignis ins Gedächtnis rufe, das heutzutage in Vergessenheit geraten ist.“ Obwohl Chadhas Film in der Tradition der sogenannten britischen Raj-Filme steht, wählte sie hier eine ganz andere Perspektive. Sie ist die erste britisch-indische Filmemacherin, die sich mit der Rolle Großbritanniens in Indien auseinandersetzt.

„Aufgrund meiner englischen Erziehung war ich von der allgemein anerkannten Darstellung ausgegangen, dass die Briten 1947 das Land nach langem Freiheitskampf unter Führung Gandhis wieder in die Hände der Inder zurückgeben wollten. Mountbatten sollte dies vor Ort umsetzen, doch die Parteien waren zu zerstritten. Also blieb ihm keine andere Möglichkeit, als das Land aufzuteilen. Die Gewalt, die mit der Aufteilung einherging, war also der indischen Uneinigkeit geschuldet – so jedenfalls wird es in Attenboroughs GANDHI dargestellt. Doch wenn man sich die historischen Fakten anschaut, wird klar, wie einseitig diese Interpretation ist.“

Nachdem die Briten sich zweihundert Jahre in Indien ausgebreitet hatten, formierte sich eine Widerstandsbewegung, die 1857 einen Aufstand herbeiführte, der in einigen Geschichtsbüchern als erster Unabhängigkeitskrieg bezeichnet wird. Die Briten waren schockiert angesichts der aufständischen Massen, doch sie gewannen die Kontrolle zurück. Von da an baute die britische Imperialmacht ihre Vormachtstellung aus und bestand auf eine strikte Trennung von britischen und indischen Bürgern. Außerdem bereitete sie den Nährboden für die spätere Trennung zwischen Hindus und Muslimen. 

Gleich am Anfang des Films erscheint das Zitat: „Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“ Chadha wollte sich an neuen historischen Erkenntnissen orientieren und etwas anderes erzählen als das, was ihr in der Schule beigebracht worden war. „Als der Einfluss der Briten auf Indien nachließ, sorgte dies für ein Machtvakuum, in dem sich die Konflikte zuspitzten und entluden. Die Briten beschleunigten daraufhin die Vorbereitungen für ihren Abzug, vielleicht in der Annahme, so das Aufflammen von Gewalt verhindern zu können. Oder sie wollten einfach vor dem heillosen Chaos fliehen, das sie angerichtet hatten“, mutmaßt Chadha. Als ehemalige BBC-Journalistin fühlte sie sich verpflichtet, die Faktenrecherche für das Drehbuch zu DER STERN VON INDIEN mit der entsprechenden journalistischen Sorgfaltspflicht möglichst genau durchzuführen.
Fortsetzung folgt

Foto: © tobis.de

Info: 

Gurinder Chadha
Indien / Großbritannien 2016
Englisch
106 Min · Farbe


Mit
Hugh Bonneville (Lord Mountbatten)
Gillian Anderson (Lady Mountbatten)
Manish Dayal (Jeet)
Huma Qureshi (Aalia)
Om Puri (Noor)
Michael Gambon (Ismay)
Simon Callow (Radcliffe)
Lily Travers (Pamela Mountbatten)
Stab
Regie
Gurinder Chadha
Buch
Gurinder Chadha, Paul Mayeda Berges, Moira Buffini
Kamera
Ben Smithard
Schnitt
Victoria Boydell, Valerio Bonelli
Musik
A. R. Rahman
Sound Design
Glenn Freemmantle
Ton
Nakul Kamte
Production Design
Laurence Dorman
Kostüm
Keith Madden
Maske
Jacqueline Fowler
Regieassistenz
Lance Stuart Roehrig

Biografie
Gurinder Chadha


Geboren 1960 in Kenia als Tochter indischer Eltern, aufgewachsen in London, wo sie zunächst als Radioreporterin für die BBC tätig war. Anschließend drehte sie preisgekrönte Dokumentarfilme für das British Film Institute, BBC und Channel Four. Auch ihr Spielfilmdebüt Bhaji on the Beach wurde mehrfach ausgezeichnet. Internationaler Durchbruch mit Bend it like Beckham, der sowohl national als auch im Ausland ein großer kommerzieller Erfolg war. Für ihre Verdienste in der Filmwirtschaft wurde Chadha 2006 zum Officer des Order of the British Empire (OBE) ernannt.