f tigermilch2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 17. August 2017, Teil 8

Filmheft

Berlin (Weltexpresso) – FIGUREN: Nini Lindemann und Jameelah Bashir sind die Hauptfiguren in dieser Geschichte. Nini ist ein einsames Mädchen. Ihre Mutter Anika hat vergessen, dass man sich um Kinder kümmern muss, ihr Vater ist verschwunden, ihre kleine Schwester Jessi nervt meistens.

Aber Nini hat ihre Freunde, die ersetzen die Familie. Vor allem hat sie Jameelah: Mit ihr zieht sie angeschickert durch Berlin und klaut Ringelstrümpfe, mit ihr geht sie auf den Strich um zu sehen wie Männer funktionieren, mit ihr macht sie nachts auf dem Spielplatz Liebeszauber. Die unterschiedlichsten Dinge stehen gleichwertig nebeneinander, denn Nini ist 14 - sie sieht nur Abenteuer, keine Gefahr. Dazu Flora Li Thiemann, die Darstellerin der Nini: „Es passieren viele krasse Sachen in dem Film. Viele Eltern können sich bestimmt nicht vorstellen, dass ihre Kinder so etwas machen. Ich hoffe, dass die realisieren, dass es so ein Leben gibt. Dass das nicht nur einfach eine Filmgeschichte ist.“ Man kann dazusagen, dass niemand, wirklich niemand eine Vorstellung davon hat, was in den Gehirnen von 14-Jährigen herumspukt. Und da ist bestimmt viel Blödsinn dabei.

Jameelah Bashir lebt seit zehn Jahre in Deutschland. Ihr Vater und ihr Bruder wurden im Irak ermordet, ihre Mutter Noura konnte mit ihr iehen. Jameelah ist das wildere Mädchen und das aktivere gleichzeitig. Sie will die Sicherheit einer deutschen Staatsbürgerschaft, sie ndet den Einbürgerungstest wichtiger als alles andere in ihrem Leben - mit Ausnahme ihrer geheimen Liebe zu Lukas. Jameelah verzweifelt manchmal an Ninis Ignoranz, weil Nini sich nicht vorstellen kann, wie es ist, keine Deutsche zu sein, weil sie nicht weiß, wie gut es ihr eigentlich geht. Ute Wieland zeigt diese Ungerechtigkeit: „Jameelah ist besser in der Schule als die anderen. Sie ist besser in Deutsch. Sie weiß alles über die deutsche Kultur. Aber sie hat keinen deutschen Pass, sondern ihr droht die Abschiebung.“

Amir Begovic ist der kleine Bruder von Tarik und Jasna. Seine ganze Familie kommt aus Bosnien, aber dieses ethnische Erbe ist Amir im Grunde egal. Er will hauptsächlich, dass alle in Frieden leben, damit er ein bisschen an seiner Coolness arbeiten kann. Er traut sich nicht, im Freibad vom 10-Meter-Brett zu springen - das zu lernen wäre ein angemessenes Projekt für die Sommerferien. Stattdessen tobt zuhause Streit, weil seine Schwester Jasna in den Serben Dragan verliebt ist. Dadurch wird der alte Krieg, vor dem einmal alle ge ohen sind, in die Berliner Wohnsiedlung getragen. David Ali Rashed, Darsteller des Amir, erklärt: „Die Familie wird nirgends mehr eingeladen, weil Jasna einen serbischen Freund hat. Die Lage ist extrem kompliziert.“

Jasna Begovic ist die Halbschwester von Amir und Tarik. Sie ist die Rebellin der Familie Begovic, sie will sich nicht einer Religion oder einer bosnischen Identität unterwerfen, sondern sie will das, wofür sie nach Deutschland gekommen ist: Freiheit, egal woher man stammt. Das funktioniert aber nicht in den traditionellen Strukturen ihrer Familie. Männer haben die Macht und Todfeind bleibt Todfeind. Trotzdem gibt Jasna nicht auf, was Luna Zimic Mijovic, Darstellerin von Jasna und selbst in Sarajevo geboren, gut versteht: „Jasna hat keine Angst vor dem Tod. Der Tod ist ihr näher als die Art des Lebens, das man ihr aufzwingen will. Da sind Frauen und Kinder immer die Verlierer, und Jasna versucht, diese festgelegte Zukunft zu verändern. Deshalb provoziert sie Tarik mit allem, was ihr einfällt. Vielleicht ist das der einzige Grund, warum sie mit Dragan ausgeht. Es beweist, dass sie alles tun kann was sie will. Ich glaube, sie weiß, dass diese demonstrative Selbstbestimmung sie ihr Leben kosten kann. Aber das hält sie nicht auf.“


FREUNDSCHAFT

Nini und Jameelah sind beste Freundinnen, und sie sind das ohne Rücksicht auf Unterschiede in Herkunft, Kultur oder familiäre Ver- hältnisse. Warum sollten diese Dinge sie interessieren, wenn sie so gut miteinander über ihre Liebe reden können, oder über ihre Traurigkeit. Nini liebt den Sprayer Nico mit dem zackigen Gesicht, Jameelah liebt Lukas, der sich für Menschenrechte einsetzt. Trotzdem sind die beiden Mädchen ganz und gar füreinander da, denn sie machen immer alles ganz und gar. Irgendwann sind sie verfeindet, weil Jameelah sich von Nini verraten fühlt, dann schlägern sie sich eben ganz und gar. Aber Jameelah schenkt Nini den Kontakt zu ihrem verschwunden geglaubten Vater, und Nini tanzt nackt mit Jameelah einen Liebeszauber. Emily Kusche, Darstellerin von Jameelah, weiß, wie das ist: „Sie machen Sachen, die sie nur gemeinsam durchstehen können. Die brauchen sich, und zusammen sind sie wie Einer.“


JUGEND

Nini und Jameelah leben, als gäbe es keine Erwachsenen. Mütter stünden zur Verfügung, Lehrerinnen, Sozialarbeiter, trotzdem wollen sie weder Rat noch Hilfe. Irgendwann müssen sie einsehen, dass sie selber nicht mit allem fertigwerden können. Aber für eine Weile beschreibt der Film jenen kurzen Zeitraum, in dem Jugendliche radikal genug sind, um allein und furchtlos zu sein. Das ist ein gefähr- licher, glorreicher, notwendiger Zeitraum, der immer das Zentrum des Coming-of-Age Genres ist, und TIGERMILCH zeigt viel davon her. Luna Zimic Mijovic vermutet: „Man erfährt, was in den Gehirnen und in den Körpern von 14-Jährigen vorgeht. Wir Erwachsenen, wir haben überhaupt keine Ahnung, was die bewegt. Wir verstehen nicht wie sie kämpfen, um erwachsen zu werden. Aber hier kann man ein wenig davon sehen.“ Und Oliver Berben fasst zusammen: „Es geht in TIGERMILCH darum, erwachsen zu werden. Aber vor allem geht es darum, jung zu sein.“

STIL

Das Entscheidende bei einem Film über Jugendliche ist die Wahrhaftigkeit, die ihm innewohnen muss. Wenn die fehlt, wird der Film sein Publikum nicht erreichen, jedenfalls nicht eines, das gleichaltrig ist. Erwachsene mögen ihn anschauen, aber das ist genau der Punkt, der den richtigen Coming-of-Age Film von der Farce unterscheidet: Erwachsenen kann man leicht alles erzählen, sie wissen zu wenig über die Jugend, selbst dann, wenn sie eigene Kinder haben. Aber das Teenager-Publikum sieht schon in den ersten Momenten, ob der Film ihre Welt erkannt hat oder nur imitiert. Also wurde dem Style von TIGERMILCH größte Aufmerksamkeit gewidmet, egal ob es um die T-Shirts ging, um Musik oder um Sprache. Da die Constantin-Film in einer langen Tradition des Jugend lms steht, kennt Oliver Berben das Problem: „Diese Altersgruppe merkt sofort, ob da Erwachsene am Werk waren, die sich gedacht haben, so müssen Jugendliche reden – oder ob das wirklich Leute sind, die diese Sprache beherrschen. Die Kreation des Looks war mit das Wichtigste neben der Sprache.“


LOOK

Die Welt, in der Nini und Jameelah leben, wird nicht aus der Sicht von Erwachsenen gezeigt, sondern öffnet sich durch die Augen der Mädchen. Dafür wurden große Teile des Films mit Handkamera gedreht, um den Blickwinkel zu zeigen, mit dem die beiden ihre Siedlung und ihr Berlin erleben. So kam Kameramann Felix Cramer auch immer wieder nah an Nini und Jameelah heran, die vielen Nuancen ihres Mienenspiels wurden sichtbar, die wechselnden Launen, mit denen sie die verschiedenen Umgebungen kommentieren. In den ruhigeren Momenten setzte Felix Cramer dann eine unbewegte Kamera ein, um der Geschichte auch visuell einen Rhythmus zu geben.Sobald die Musik laut wird und die Clique Spaß hat, montierte Cutterin Anna Kappelmann die entsprechenden Sequenzen mal rasant aneinander, mal setzte sie den Ablauf in Zeitlupe – bei der Party im Grunewald kann man so die aufgeheizte Stimmung der ganzen Mannschaft fast körperlich spüren, ihr Übermut springt förmlich von der Leinwand ins Kino und überträgt sich auf die Zuschauer.

Die Farben von TIGERMILCH wurden ruhiger gehalten. Es sind keine Primärfarben, sondern sie sind gedeckter, eben nicht mehr kindlich bunt. Es gibt viel zartes Blau für Nini, man sieht das besonders in ihrem Zimmer, wenn sie dort allein oder mit Jameelah herumlungert. Jameelah selbst hat als erkennbaren Akzent wärmere Rottöne, die Farben korrespondieren mit ihrem Temperament so gut wie mit ih- rem Auftreten. Dazu gibt es Grün oder Blaugrün für die Jungs, die man hauptsächlich im Freien und in Bewegung sieht. Die gefährlichen Gebiete unter der Hochbahn wirken gleich noch gefährlicher, weil das Licht dort weiß glitzert, die Wohnblocks von Jameelah und Nini hingegen sind in freundliche Töne getaucht, vergitterte Mülltonnen hin oder her – hier ist das Zuhause von Nini und ihren Freunden, des- halb sehen sie hier immer Sonnenschein statt grau. Insgesamt wechseln die Farben im Gleichklang mit der Zeit, die im Film verstreicht. Am Anfang des Sommers wirken sie frisch und vital, am Ende, wenn Nini und Jameelah ihre Krisen durchlaufen haben, hat sich auch der Anstrich ihrer Welt verändert: er ist kühler geworden, ein bisschen härter, wie die Mädchen selbst.

Gedreht hat Kameramann Felix Cramer auf der Alexa Mini mit Hawk-Anamorphoten. Seit Jahren wollte Ute Wieland diese Optiken ausprobieren, und Scope als Bildformat erschien ihr für TIGERMILCH ideal. Bei dem Format wurde die Bildmitte hervorgehoben, die Seitenpartien traten in den Hintergrund, und vor allem evozierten diese Optiken einen Retro-Kino-Look.


AKTUALITÄT

In TIGERMILCH sieht man das Leben in einer Berliner Wohnsiedlung aus der Perspektive der Jugendlichen, die dort groß werden. Das führt zu gelebter Integration, ohne dass die Betroffenen überhaupt an das Wort denken. Sie sind zusammen auf Bäume geklettert als sie klein waren, sie essen und schlafen in den Familien ihrer Freunde, sie machen Witze übereinander. „Mehr braucht es nicht“, sagt Ute Wieland. „Ich hatte nicht die Absicht, einen pädagogischen Film zu machen. Hier wird beiläu g erzählt, wie das ist, im Leben, in Deutschland. Aber es führt diese Geschichte mitten in die Gegenwart, weil sich daraus automatisch all die aktuellen Fragen nach Migra- tion, Identität, Heimat ergeben.“

Foto: © Verleih

Info:
Besetzung
Nini Lindemann           Flora Li Thiemann
Jameelah Bashir          Emily Kusche
Amir Begovic               David Ali Rashed
Noura Bashir                Narges Rashidi
Annika Lindemann       Gisa Flake
Rainer Maas                 Heiko Pinkowski
Krankenschwester       Stefanie De Velasco