f als paulSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. August 2017, Teil 6

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Schon immer gingen Menschen auf die Flucht, auch unter den Gegebenheiten fragwürdiger geistklimatischer Inlandsverhältnisse. Das Flüchten vor unerträglichen Zuständen ist Menschen ureigen. Die zum Wagemut Geneigteren gehen immer schon auf innere und äußere Fluchten.

Aus vielen dieser Züge wurde der Aufstieg der Menschheit gespeist. Die festgefügte, stillgestellte Welt ist eine Fiktion. „The world is closing in“, ist geltende Leitidee. Das Reisen ist eine geminderte Variante von Flucht.

Nach dem Abitur ein Jahr lang nach Nepal und Indien! In fast jeder größeren Familie gibt es ein Mitglied, das es sehr weit in die Fremde gezogen hat. Trotzdem rutscht ins Vergessen, dass historisch nachgewiesene Gruppen eigener Vorfahren in einer Fluchtbewegung vor versteinerten, schwer erträglichen oder gar akut bedrohlichen Verhältnissen flohen – verjagt wurden! Eine dieser allseits bekannten Menschengruppen waren die Hugenotten.

Der Film lässt einen fragen: Wer bin ich eigentlich, was privilegiert mich im Jetzt?

Vorzugsweise Filmaufnahmen von einzelnen Fluchtvorgängen erregen Sympathie für die Protagonisten, Identifikation stellt sich auf dem Kinositz ein, sofern der Menschenverstand noch heil ist. Der einzelne Fall ist immer verständlicher als die Gesamtbewegung, die als noch Unverstandene zur Herausforderung wird. Besitzstände scheinen unmittelbar in Gefahr zu geraten, der Nutzen langfristiger Mühen und Einsätze wird verkannt. Aufgeklärt zum Helfen Bereite erkennen die beiderseitigen Chancen. Die Olympier der Deutschen waren kosmopolitisch, bis die Dummheit der Selbstüberschätzung ins Unheil führte. Mit Leitkultur hatten sie null am Hut.

Der Fall eines weiteren Sympathen der Flucht wird in dem Dokumentarfilm ‚Als Paul über das Meer kam – Tagebuch einer Begegnung‘ geschildert. Der Film zeigt umfänglich reizvolle genretypische Szenen vom Aufbrechen und Ankommen. In dem Begriff Begegnung tritt das persönliche Näherkommen des Filmmachers zum dem einzelnen Flüchtenden zutage, so sehr er sich auch erst dagegen sträubte. Die Betroffenheit ist nicht hergeholt, sie wuchs über 800 Tage. Der Flüchtende erscheint ihm als „ein überkorrekter Mann“, der in gepflegtem Französisch die Lage des innerlich gespannten Europas anerkennend vermerkt und die verschiedenen Weltlagen intelligent analytisch in die zutreffenden Einsichten fasst. Der Geflüchtete versteht die Bedenken, die Europa umtreiben, wenn so viele Einlass begehren.

Schließlich landet der Übergesetzte – andere hat´s erwischt, sie ertranken – im Elternhaus des Filmemachers, im Stadtteil der ‚Wilmersdorfer Witwen‘. Paul macht dort eine gute Figur, hat die Feinheiten der deutschen Sprache bald heraus, überlegt schon nicht mehr lange, was der Vater der Familie wohl gemeint haben könnte. Ja, Paul aus Kamerun zieht bei den Eltern ein, der Vater zahlt ihm den Sprachkurs - mehr noch, er erteilt selbst einen Sprachkurs, um Paul in das möglichst beste Deutsch einzuführen. So handelt der Preuße. Und obwohl die Aussichten günstig sind, erhält Paul am 234.Tag der Flucht die Abschiebeverordnung.

Die deutsche Gründlichkeit, gepaart mit Fürsorglichkeit, reicht nicht in den Staat und seine Organe hinein. Der Staat ist eine gefühllose Anstalt. Paul macht Freiwilligendienst im Seniorenheim, wartet immer noch auf seine Asylentscheidung. Obwohl er inzwischen sogar in Vollzeit arbeitet, lebt er in Angst vor Abschiebung.


Flucht ist ein Akt der Befreiung seitens der Mutigeren

Die gezeigten Filmaufnahmen reichen über den Zeitraum von 234 Tagen. Sie beginnen im ‚Kamerunschen Camp‘ bei Melilla, der spanischen Enklave auf afrikanischem Boden. Pauls Route verlief von Kamerun über Nigeria und Niger nach Algerien. Dort parlieren nun die vor deprimierenden Verhältnissen Geflohenen klug und pointiert im Palmenhain über Aspekte ihrer Lage. Paul haben „Tribalismus und Diskriminierung“, die Aussichtslosigkeit von Verhältnissen seiner Heimat in die Flucht getrieben. Er hatte studiert, war im Studentenrat. Das hatte Folgen. Man erfährt, dass es im Grenzbereich den Unterschied zwischen Polizisten und Grenzern (der Guardia Civil) gibt. Menschen turnen halsbrecherisch auf Stangen, die an Speere und Lanzen erinnern. Selbst der schwächliche Zaun dient noch als Grundlage für einen wackeligen Sitz. Immer wieder kommt es in den Nächten zu Versuchen der Übersteigung, bis es dann doch einmal gelingt. Die Polizisten sind nicht ohne Verständnis für die Flüchtenden, das südliche Europa ist relativ weniger verspannt.


Eine Flucht verläuft über etliche Stationen

Nachdem er unter traumatischen Bedingungen übergesetzt war – man sieht Gerettete ohne Regungen der Freude nach ihrer ‚Rettung‘ – verläuft Pauls Fluchtweg über Granada, Bilbao und Paris, hin ins weltoffene Berlin und weiter noch bis Eisenhüttenstadt. 20-30 wurden nach der Rettung vermisst. Die Wellen wurden hoch, der Motor streikte. Auf der ‚Idealo‘, dem Schiff der Frontex, wird gesagt, dass das Anliegen der Organisation Sicherheit und Präsenz sowie Menschen schützen und retten sei; gleichzeitig geht es aber um den Schutz aufgerichteter Grenzen, deren Funktion Abwehr und Abschottung ist. Die Grenzer sind die untersten Ausführenden der sich um das große Ganze nicht scherenden Staaten der EU.

Das Nord-Süd-Verhältnis ist komplett schief, gestört. Nach der gewöhnlichen Sklaverei setzt sich das Unheil fort mit Umweltzerstörung, Landraub und Übervorteilung im Welthandelsregime, das vom hochindustrialisierten prädominanten Norden ausgeübt wird. Finanzindustrie, Banken und Industriekonzerne kooperieren mit den Schindern und Ausbeutern der südlichen Hemisphäre, lassen es sich dabei gut gehen. Schäuble setzt der Sorgfaltspflicht bei Auslandsinvestitionen strikt Widerstand entgegen. Fluchtbewegungen sind Reaktionen auf das Fehlverhalten und die Versäumnisse der EU-Politik. Das Frontex-Regime ist verlogen. Es redet von Retten und Schützen, meint aber: Bleibt bloß wo ihr seid!


Der Norden erntet, was er im Süden angerichtet hat - und weiter anrichtet

Nach der ‚Rettung‘ geht es nach Tarifa in Spanien, in eine Abschiebeanstalt, auf eine Gefängnisinsel mit Hochsicherheitstrakt. Der Asylantrag liegt noch in weiter Ferne, die Geflüchteten können zwar freigelassen werden, bekommen aber kein Bleiberecht. Sie erhalten lediglich einen Aufenthaltstitel. In der Unterkunft tauschen die Gestrandeten sich über Erlebnisse aus. ‚Bin in Spanien!‘ - dieser Gedanke nimmt sie ein und macht sie etwas unbeschwerter. Pauls Weg ging weiter nach Bilbao, in Paris muss ein Zwischenstopp eingelegt werden, die Abhängigkeit von unsicheren Routen ist prägend. Einen langen Weg hat er zurückgelegt. Berlin wird ihm zur relativ sicheren Stadt des bedingten Zuhauses. Eine unbegleitete, finanziell nicht abgesicherte Fahrt nach Eisenhüttenstadt musste er noch antreten. Letztlich war die Verhandlung der Eltern von Jakob, dem Regisseur, mit den Amtshoheiten rettend für Paul, dessen Fall aber noch längst nicht ausgestanden ist.

Die durch das Fehlverhalten des Nordens gestraften und in die Flucht getriebenen Menschen sollten sich frei um den Globus bewegen können und überall da ihre Zelte aufstellen können, wo sie sich angekommen fühlen. Auf diese Weise könnten sie ihre heimischen Diktatoren einfach sitzen lassen. Die Erste Welt bildet sie aus, damit sie zur Brücke und Vermittlung in ihre alte Heimat werden können – sofern sie dies wollen. Sie würden zu Entwicklungsexperten im Großraum einer Welt, die nie mehr parzelliert sein wird. Es gibt diese Exemplare bereits im Tross der NGOs. Nur wird wenig über sie berichtet. Die Konstitution der Heimat aus ursprünglicher und angenommener hat die Aufklärung vorgelebt.

Für den Dokumentarfilm über ‚Paul, der über das Meer kam‘ erhielt Regisseur Jakob Preuss den Max Ophüls Preis 2017


Foto © kinofreund.com

Info:

‚Als Paul über das Meer kam‘, Tagebuch einer Begegnung · Dokumentarfilm, Regie und Buch: Jakob Preuss, Deutschland 2017, 97 Min. · Kinostart: 31.08.2017