f thesquaSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. Oktober 2017, Teil 8

Ruben Östlund

Stockholm (Weltexpresso) -  KOMMENTAR DES REGISSEURS: 2008 wurde in Schweden die erste geschlossene Wohnanlage eröffnet, also eine Siedlung, zu der nur ihre Bewohner Zugang haben. Es gibt kaum ein extremeres Beispiel dafür, wie sich privilegierte gesellschaftliche Gruppen von ihrer Umgebung abschotten.

Darüber hinaus ist diese Wohnform eines von vielen Zeichen dafür, dass europäische Gesellschaften individualistischer werden, je weiter sich seit 30 Jahren die Regierungen verschulden, die Sozialleistungen schrumpfen und die Schere zwischen Arm und Reich wächst. Sogar in Schweden, einer der egalitärsten Gesellschaften der Welt, haben wachsende Arbeitslosigkeit und die Angst vor Statusverlust dazu geführt, dass sich immer mehr Individuen gegenseitig sowie der Gesellschaft als solcher misstrauen. Ein vorherrschendes Gefühl von Machtlosigkeit hat unser Vertrauen in den Staat unterminiert und dazu geführt, dass wir uns immer weiter in uns selbst zurückziehen. Doch wollen wir wirklich, dass sich unsere Gesellschaft in diese Richtung entwickelt?

Während der Recherche zu meinem Spielfilm PLAY – NUR EIN SPIEL?, in dem es um Kinder geht, die andere Kinder überfallen und ausrauben, stieß ich immer wieder darauf, wie schwer es uns offensichtlich fällt, im öffentlichen Raum anderen Hilfe anzubieten. Die realen Überfälle, auf denen die Geschichte von PLAY basiert, fanden am helllichten Tag in der friedlichen Stadt Göteborg statt, in Einkaufszentren, Straßenbahnen und auf öffentlichen Plätzen. Keiner der Erwachsenen, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, hat auf die Vorfälle reagiert.

Diese mangelnde Hilfsbereitschaft in Gegenwart anderer Menschen ist bei Psychologen bekannt als „Bystander-Effekt“ oder „Beobachter-Apathie“. Experimente zeigen, dass sich die Hilfsbereitschaft umgekehrt proportional verhält zur Anzahl der Umstehenden. Also je mehr Menschen die Situation beobachten, desto weniger hilfsbereit sind wir. Schuld daran ist die in größeren Gruppen häufig auftretende sogenannte „Verantwortungsdiffusion“. Auch wenn es Anzeichen dafür gibt, dass ein Gruppenzusammenhalt die kollektive Gleichgültigkeit ausgleichen kann.

Als mein Vater jung war, in den 1950er Jahren, muss die westliche Gesellschaft dagegen noch ein Gefühl von geteilter Verantwortung gehabt haben. So erzählte er mir zum Beispiel, dass seine Eltern ihn im Alter von sechs Jahren unbeaufsichtigt durch die Innenstadt von Stockholm laufen und dort spielen ließen. Sie hängten ihm einfach ein Schild mit ihrer Adresse um den Hals, falls er sich verlaufen sollte. Das erinnert uns daran, dass es eine Zeit gab, als wir andere Erwachsene als vertrauensvolle Mitglieder einer Gemeinschaft erachteten, die einem Kind in Schwierigkeiten umgehend helfen würden.

Das soziale Klima heute scheint dagegen weder Gruppenzugehörigkeit noch das Vertrauen in unsere Gesellschaft zu fördern. Heutzutage sehen wir vielmehr andere Erwachsene als Bedrohung für unsere Kinder an. Mit diesen Gedanken im Kopf entwickelten Kalle Boman (1) und ich die Idee zu THE SQUARE, einem Kunstprojekt, das das Thema Vertrauen in unserer Gesellschaft ansprechen und die Notwendigkeit, unsere sozialen Werte zu überprüfen, ausloten sollte.


Ideale und Realität

Der Titel des Films THE SQUARE stammt von unserem Kunstprojekt, das wir erstmals im Herbst 2014 im Vandalorum Musuem in Südschweden zeigten. Das Kunstwerk veranschaulicht das Ideal der Einigkeit, die unsere Gesellschaft für das übergeordnete Wohl lenken sollte. Es wurde schließlich zu einer permanenten Installation auf dem zentralen Platz der Stadt Värnamo. Wenn jemand in Värnamo in der aus rotem Licht bestehenden Version von „The Square“ steht, ist das für die anderen eine Verpflichtung, zu handeln und zu reagieren, wenn Hilfe gebraucht wird.

Neu ist daran die Art und Weise, mit der wir die Werte heraufbeschwören. „The Square“ ist ein Ort der humanitären Werte, zurückgreifend auf die Moral der Wechselseitigkeit, die in beinahe jeder Religion zutage tritt („Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“). Genauso in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen“). Und dennoch: Wenn ich mein Fahrrad irgendwo unangeschlossen stehen lasse und es wird gestohlen, würden die meisten Menschen denken, dass ich alleine Schuld daran habe.

Die Ausstellung in Varnämo experimentierte mit der Idee, dass die gesellschaftliche Harmonie von einer einfachen Entscheidung abhängt, die jeder einzelne von uns täglich zu treffen hat: „Ich vertraue den Menschen“ oder „Ich misstraue den Menschen“. Die Museumsbesucher mussten sich zwischen zwei Türen entscheiden: links, wenn man seinen Mitmenschen vertraut; rechts, wenn das nicht der Fall ist. Die meisten entschieden sich zunächst für ersteres, bekamen dann aber kalte Füße, als sie gebeten wurden, ihre Telefone und Brieftaschen auf dem Fußboden der Ausstellung abzulegen... Dieser Widerspruch zeigt, wie schwierig es ist, nach den eigenen Prinzipien zu handeln.

Anmerkung
(1) Boman, geboren 1943, ist Filmproduzent und Professor an der Universität Göteborg. Er arbeitete mit Regisseuren wie Bo Widerberg, Roy Andersson und Ruben Östlund zusammen. 2014 erhielt er bei der Verleihung des Schwedischen Filmpreises die Auszeichnung für sein Lebenswerk.

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Foto: Hier ist aus dem Strahlemann schon der Versager geworden © Verleih

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