Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. Oktober 2017, Teil 9
Ruben Östlund
Stockholm (Weltexpresso) - Der Film THE SQUARE konfrontiert uns mit einer Schwäche der menschlichen Natur: Wenn man versucht, das Richtige zu tun, ist das Schwierige nicht, den gebräuchlichen Werten zuzustimmen, sondern tatsächlich nach ihnen zu handeln.
Wie behandle ich beispielsweise Bettler, wenn ich mich für eine faire und gleichberechtigte Gesellschaft einsetzen will, in der die Kluft zwischen Reich und Arm verschwindet? Soll ich meinen privilegierten Lebensstil aufrechterhalten, der es mir ermöglicht, ihnen jeden Tag etwas zu geben und damit ihre Situation nur ein klein wenig verbessert? Oder sollte ich meinen eigenen Lebensstil radikal verändern, um die Balance zwischen uns wiederherzustellen?
Die ständig wachsende, extreme Armut und das Ansteigen der Obdachlosigkeit in den Städten der reichen Industrienationen stellen uns mittlerweile jeden Tag vor ein solches Dilemma.
In meinem ersten Spielfilm INVOLUNTARY hatte ich mich – bezugnehmend auf das Experiment von Stanley Milgram – damit auseinandergesetzt, wie uns Gruppenverhalten dazu bringen kann, eine Grenze zu überschreiten. Diese Tests dienen bekanntermaßen als Paradebeispiel für Hannah Arendts Idee der Banalität des Bösen und der Obrigkeitshörigkeit der Menschen.
Im Zusammenhang mit THE SQUARE möchte ich das „Barmherzige Samariter“- Experiment zitieren, das 1973 in Princeton durchgeführt wurde. Damals nahmen 40 Theologiestudenten an einer Studie teil. Sie gingen davon aus, dass es um Religionspädagogik und Berufungen ginge. Nach dem Ausfüllen eines Fragebogens wurden die Teilnehmer aufgefordert, sich in ein anderes Gebäude zu begeben – und sich dabei zu beeilen. Einer der Männer war in Wirklichkeit ein Schauspieler, der auf dem Weg ins Nachbargebäude fiel und so tat, als würde er Hilfe brauchen. Natürlich waren alle Theologiestudenten mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter und dessen Botschaft vertraut: Hilf anderen in der Not. Doch haben sie geholfen? Die meisten taten es nicht. Die Ergebnisse zeigten: Je eindringlicher ihnen gesagt worden war, sie sollten sich beeilen, desto geringer fiel ihre Hilfsbereitschaft aus.
Die Menschlichkeit des Protagonisten
Christian ist ein Mann mit vielen unterschiedlichen Seiten. Er ist gleichermaßen idealistisch in seinen Worten und zynisch in seinen Taten, gleichzeitig machtvoll und schwach. Genau wie ich selbst ist er ein geschiedener Vater von zwei Kindern, er ist im Kulturbereich tätig und hat sich den existentialistischen und sozialen Fragen verpflichtet, die durch „The Square“ aufgeworfen werden. Er ist davon überzeugt, dass hinter „The Square“ eine bahnbrechende Idee steht und möchte mithilfe der Kunst die Menschen zum Denken anregen. Gleichzeitig ist er ein soziales Chamäleon, das genau weiß, welche Rolle er als Leiter eines Museums zu spielen hat und wie er mit den Erwartungen von Sponsoren, Besuchern und Künstlern umgehen muss.genau weiß, welche Rolle er als Leiter eines Museums zu spielen hat und wie er mit den Erwartungen von Sponsoren, Besuchern und Künstlern umgehen muss.
Christian steht vor den gleichen Fragen und Herausforderungen wie wir alle: der Übernahme von Verantwortung, Vertrauen und moralischem Handeln im persönlichen Rahmen. Als er in ein Dilemma gerät, kommen seine individuellen Handlungen seinen moralischen Prinzipien in die Quere. Christian erscheint als ein wandelnder Widerspruch, wie so viele von uns. Am Ende des Films ist es an uns zu beurteilen, ob er seine Lektion gelernt hat.
Für THE SQUARE war ein naturalistischer, intimer Ansatz der Schauspieler wichtig. Die liebevolle Beziehung zwischen Christian und seinen Cheerleader-Töchtern stellt den emotionalen Kern des Films dar und verdeutlicht durch konkrete Bilder die Idee einer Suche nach Utopie. Tatsächlich sind die Mädchen als Cheerleader vereint in einem sehr effizienten, kollektiven Bemühen, zu dessen Gelingen jedes Individuum den gleichen Anteil beiträgt. Außerdem gibt es kaum ein besseres Bild für die Wichtigkeit von Vertrauen als ein 10-jähriges Mädchen, das zu einem Salto in der Luft ansetzt und darauf baut, von den anderen aufgefangen zu werden. Der Fokus und die Freude der Cheerleader illustriert die beste Seite der amerikanischen Gesellschaft.
Kann Gerechtigkeit Glück kaufen?
Christians Geschichte verdeutlicht die beiden sokratischen Pfeiler der Gerechtigkeit: den Gesellschaftsvertrag und die Individualethik. Gerechtigkeit besteht darin, den Gesetzen zu gehorchen im Austausch dafür, dass es die anderen auch tun. Doch mehr noch ist die Gerechtigkeit auch der Zustand einer wohlgeordneten Seele. Der gerechte Mensch ist also notwendigerweise auch der glückliche Mensch. Diese alte und verführerische Idee, dass „das Richtige tun“, also Gerechtigkeit, das Glück erkaufen kann, ist nicht veraltet. Forscher der Sozialpsychologie haben unter freiwillig Tätigen mit einem hohen Grad an sozialem und politischem Engagement ein 10 gesteigertes Vertrauen in andere festgestellt.
Dieses Phänomen wird „Helper’s High“(1) , also „Helfershoch“ genannt. Vielleicht werden einige Zuschauer lachen über Christians unbeholfene und amüsant-peinlichen Bemühungen oder andere Witze im Film. Aber vielleicht teilen sie auch die Vorstellung von Gerechtigkeit, die dieser Geschichte innewohnt.
Zu „gut“ um viral zu gehen, oder: Wie die Medien uns schlechter machen
Als Satire übertreibt THE SQUARE natürlich die schlimmsten Tendenzen, die sich dieser Tage in unserer Gesellschaft beobachten lassen. Darunter etwa die Art und Weise, wie Medien ihre eigene Verantwortlichkeit ignorieren im Reproduzieren exakt der Probleme, über die sie berichten. Das Museum engagiert PR-Spezialisten, die der Ausstellung und den mit „The Square“ einhergehenden Ideen größtmögliche Aufmerksamkeit in den Medien bringen sollen. Doch die stellen sarkastisch fest, dass der Gedanke hinter „The Square“ „zu nett“ und einvernehmlich sei und niemand sich dafür interessieren werde. „Um Journalisten dazu zu bringen, etwas darüber zu schreiben, brauchen wir eine Kontroverse. Diesem Projekt fehlt jede Form von Schärfe oder Konflikt.“
Es lassen sich Parallelen ziehen zu extremistischen Parteien in Schweden, den USA, Frankreich oder sonst irgendwo auf der Welt, die durch provokative, polarisierende Debatten das Interesse der breiten Öffentlichkeit auf sich lenken konnten. Bei uns in Schweden gelang es einer solchen Partei, drittstärkste politische Kraft zu werden. Meine Inspiration für die PR-Strategen im Film waren dabei die provokativen Stunts der bekannten schwedischen Agentur Studio Total.
Tragische Ironie hat die sozialen Medien zum besten Werbeträger für Terrororganisationen gemacht. Jeder weiß Bescheid über die mediale Hysterie, die Europäer dazu bringt, sich dem IS anzuschließen, oder die zu den Morden in Kopenhagen geführt hat, nur wenige Wochen nach der Attacke auf Charlie Hebdo in Paris. Doch niemand hat daraus gelernt. Noch vor ein paar Jahren hätte der Ehrenkodex der Presse es verboten, dass eine Zeitung oder ein Sender schockierende, fragwürdige oder manipulierte Bilder zeigt. Doch weil die Kosten gesenkt und Jobs gestrichen werden, sind die Journalisten zusehends überfordert.
Dies führt dazu, dass sich die Medien immer häufiger auf Sensationsbilder stürzen. Was genau auf einem Bild zu sehen ist, scheint fast egal zu sein, solange es brisant ist. Das Foto des kleinen Aylan, der auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken ist, ist dafür ein anschauliches Beispiel.
Ein einzelnes Bild änderte plötzlich die „Meinung“ über Asylsuchende in vielen europäischen Zeitungen und auf der ganzen Welt. Es zeigte, wie groß die Wirkung eines guten Bildes sein kann, wenn es provokativ oder berührend genug ist, um die niemals endende Flut an Informationen und Bildern zu durchbrechen, der wir täglich ausgesetzt sind.
Vor allem aber zeigte dieser Fall meiner Meinung nach, dass wir heutzutage unbedingt ein Bild brauchen, um emotional überhaupt noch berührt zu werden. Denn die Medien verteidigen bestimmte Standpunkte nicht mehr. Stattdessen sind unmoralische Berichte mit sensationslüsternen Fotos die Norm geworden, die sich dank sozialer Netzwerke in Windeseile um die ganze Welt verbreiten.
THE SQUARE versucht, dieses drängende Thema auf unbeschwerte, absurde Weise aufzugreifen. Das selbstverständlich nicht echte YouTube-Video, mit dem die PRSpezialisten die moralische Haltung der Ausstellung promoten wollen, zeigt, wie sehr die Medien die Art und Weise beeinflussen, wie wir auf die Welt blicken – und sie missverstehen. Ich halte es für unbedingt notwendig, diesen Effekt zu analysieren. Denn ich bin überzeugt davon, dass Bilder das wirksamste und dadurch auch gefährlichste Ausdrucksmittel sind, das wir haben. Gleichzeitig kann ein Film uns einen außergewöhnlichen Zugriff auf die Welt ermöglichen. Es gibt so vieles, was wir selbst nicht am eigenen Leib erlebt haben, aber mit Hilfe von Filmen erfahren können.
Filme können zum Beispiel dazu führen, dass wir gesellschaftliche Konventionen und alles, was wir als selbstverständlich erachten, kritisch zu hinterfragen beginnen. Ich jedenfalls freue mich immer enorm, wenn mir jemand berichtet, dass er mit seinen Freunden die ganze Nacht über meinen Film diskutiert hat. Denn dann ist es meinem Film gelungen, auch außerhalb des Kinosaals zumindest einen kleinen Moment der Veränderung auf den Weg zu bringen.
Anmerkung
(1) Stephen G. Post: “Altruism, Happiness, and Health: It’s Good to Be Good.” International Journal of Behavioral Medicine, 12(2): 66–77.
Foto: Die Journalistin (Elisabeth Moss) kam bei unserer Besprechung zu kurz. Auch ihr Verhalten sehr sehr eigen © Verleih
Info:
BESETZUNG
Claes Bang Christian
Elisabeth Moss Anne
Dominic West Julian
Terry Notary Oleg
Christopher Læssø Michael
Marina Schiptjenko Elna
Elijandro Edouard Pojken
Daniel Hallberg PR-Berater
Martin Sööder PR-Berater