f nobelpreistrager1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. November 2017, Teil 10

Filmheft

Buenos Aires (Weltexpresso) - Kann schon sein, daß so ein Film wie dieser nur in Lateinamerika geschaffen werden kann, weil die Bestandteile nur dort ideal zusammentreffen. Es gibt eine großartige Literaturszene, die spätestens seit Gabriel Garcia Marques (Kolumbien) mit HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT die magische Erzählweise in die Welt trug. Natürlich waren auch schon zuvor Dichter wie Borges (Argentinien) oder Neruda (Chile) ihren Völkern bekannt und vor allem beliebt.

Nerudas Gedichte kannten auch die einfachen Leute auswendig und seine Lebens- und Liebesgeschichten waren von allgemeinem Interesse. Von daher finden wir diesen Film sehr gelungen,. Hier ein Interview mit den Regisseuren und Produzenten. 

Wie kam es zu diesem Projekt?

Gastón Duprat : Unser Drehbuchautor Andrés Duprat schlug Mariano und mir vor, einen Film über eine bekannte Persönlichkeit – in diesem Fall einen Schriftsteller – zu machen, der nach 40 Jahren Abwesenheit in sein Heimatdorf zurückkehrt. Wir mochten die Idee auf Anhieb. Wir wussten, dass wir in diesem Rahmen verschiedene Themen behandeln konnten, die mit der argentinischen Gesellschaft zu tun haben, aber so auch die speziellen Mechanismen beleuchten konnten, die in einer Kleinstadt am Werk sind, wenn sie mit dem Ruhm eines der ihren konfrontiert wird.


Warum haben Sie aus Ihrem Helden den ersten argentinischen Literaturnobelpreisträger gemacht?

G.D.: Tatsächlich hat kein argentinischer Schriftsteller je den Literaturnobelpreis erhalten hat, einschliesslich Jose Luis Borges. Er wäre mehrere Male beinahe ausgezeichnet worden, aber für die Jury war er wohl zu genial oder zu politisch 
unkorrekt. Er hat sich über diesen Umstand lustig gemacht. Jedes Jahr sagten Journalisten zu ihm: „Meister, welche Enttäuschung! Die Argentinier gehen wieder leer aus.“ Und er antwortete: „Wenn ich gewonnen hätte, wäre es ohnehin mein Preis gewesen und nicht der der Argentinier.“ Nun ist es plötzlich ein wenig so als würden wir mit der Figur des Daniel Mantovani eine Lücke füllen, denn für einen Schriftsteller gibt es nichts Prestigeträchtigeres als den Nobelpreis.


Der Film ist lustig und grausam zugleich. Ist DER NOBELPREISTRÄGER mehr Satire als Komödie?

Mariano Cohn: Die argentinischen Kritiker sprachen von einer „ungemütlichen Komödie“. Uns ging es darum, sowohl formal als auch inhaltlich die Genres zu vermischen. DER NOBELPREISTRÄGER nimmt sowohl bei der Komödie als auch 
beim Western Anleihen, in seiner Erzählweise aber auch beim Dokumentarfilm. Eigentlich haben wir den Eindruck, dass die Möglichkeiten, die der Spielfilm als Genre bietet, nur wenig genutzt werden, und genau das versuchen wir, indem wir 
Grenzen überschreiten und weiter gehen, als es auf der Kinoleinwand normalerweise zulässig ist.


Haben Ihre Erfahrungen mit dem Experimentalfilm und beim Fernsehen einen Einfluss auf die Art und Weise, wie Sie eine Geschichte für die Kinoleinwand erzählen?

M.C.: In diesem Fall wollten wir dem Film etwas „Punkiges“ verleihen, die Bilder sollten die Zuschauer beschäftigen. Der dokumentarische Aspekt erforderte ein bestimmtes Licht und eine besondere fotografische Struktur, eine sehr persönliche 
Cadrage, fern von dem, was man üblicherweise im Kino oder auch in Fernsehserien zu sehen bekommt. Es stimmt schon, der Film sieht manchmal wie eine Fernsehreportage aus, und dazu stehen wir vollkommen. Für uns ist das Fernsehen kein niederes Genre, es kann eine wahrhaft künstlerische Dimension haben, und deshalb arbeiten Gastón und ich auch in diesem Bereich.


Ist DER NOBELPREISTRÄGER ein Porträt der argentinischen Gesellschaft von heute?

M.C.: Man kann ihn als Porträt der argentinischen Gesellschaft betrachten, aber nicht als endgültiges und ausschliessliches. Ich würde sagen, er gleicht einer Postkarte. Er ist unsere Vision der argentinischen Gesellschaft durch das Prisma einer Kleinstadt und ihrer Einwohner.


Warum haben Sie die Handlung in einer Kleinstadt fern von Buenos Aires angesiedelt?

G.D.: Weil sie zwangsläufig verschlossener und weniger kosmopolitisch ist. Sie ist der perfekte Schauplatz für eine Geschichte wie die von DER NOBELPREISTRÄGER, in der die Rückkehr des örtlichen Wunderkindes zu gewaltigen Spannungen führt. Es stellt sich heraus, dass Daniel Mantovani den Vorstellungen, die sich die Einwohner von Salas von ihm machen, nicht entspricht.

Sie wollen ihn weniger für sein Werk als für seinen Ruf ehren. Nicht alle haben seine Bücher gelesen, und wer sie gelesen hat, hat sie nicht unbedingt gemocht. Diese Kluft zwischen den Einwohnern und dem Künstler, zuzüglich des manchmal unangebrachten Verhaltens des letzteren, trägt zu der Welle des Unmuts bei, die das Dorf erfasst.


M.C.: Außerdem interessierte uns die Kleinstadt als literarischer Topos. Obwohl er seit 40 Jahren keinen Fuss mehr dorthin gesetzt hat, basiert das gesamte Werk von Daniel Mantovani auf dem Leben und den Einwohnern von Salas. Das ist in der Literatur sehr geläufig, beinahe schon ein Genre für sich. Außerdem gefiel es uns, mit dem Film dem Klischeebild zu widersprechen, das sich die europäischen Leser von einem lateinamerikanischen Dorf machen mögen.


Die Geschichte wird ausschliesslich aus der Perspektive von Daniel Mantovani erzählt. Weshalb?

G.D.: Wir wollten, dass das Publikum direkt in die Stadt und die Handlung eintaucht. Daniel Mantovani tritt in jeder Szene auf. Man sieht und hört nur, was auch er sieht und hört, und begleitet ihn bei seiner Wiederentdeckung von Salas. 
Daniel Mantovani ruft bei den Einwohnern von Salas widersprüchliche und manchmal extreme Reaktionen hervor.


Ist er für Sie ein Held oder ein Anti-Held?

G.D.: Er ist sowohl Held als auch Anti-Held. Diese Ambivalenz Daniel Mantovanis und auch der übrigen Figuren ist ein wichtiger Bestandteil des ganzen Films. Es gibt nicht die Guten auf der einen und die Bösen auf der anderen Seite, nichts steht in dieser Geschichte fest, ein bisschen so wie im richtigen Leben auch. Das macht den Film sehr lebendig und sehr realistisch. Alle Figuren haben ein bisschen recht, sogar die, die völlig unrecht haben.

M.C.: Hätten wir nur an Daniel Mantovani als Held oder Anti-Held gedacht, hätten wir diesen Film bestimmt nicht gemacht.


Oscar Martínez erhielt in Venedig für DER NOBELPREISTRÄGER den Preis für den besten Darsteller. Haben Sie ihm diese Rolle auf den Leib geschrieben?

G.D.: Wir wollten von Anfang an, dass Oscar Martínez Daniel Mantovani spielt. Schon vor 5 Jahren haben wir ihm die Rolle angeboten. Er blieb uns treu, bis der Film endlich zustande kam. Es war für uns ein grosses Glück, einen Schauspieler 
wie ihn zu haben: er ist in jeder Einstellung zu sehen, und ohne seinen außerordentlichen Beitrag wäre der Film nicht, was er ist. Oscar Martínez wählt seine Filme sehr sorgfältig aus, viel sorgfältiger als andere Schauspieler. Seit langem schon teilen wir mit ihm die gleiche Sicht auf die argentinische Gesellschaft, auch dann, wenn die Kritik nicht leicht zu schlucken ist.


Sie drehen alle Ihre Filme zu zweit. Wie teilen Sie sich die Arbeit auf?

M.C.: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, zusammenzuarbeiten. Ein Filmregisseur trägt enorme Verantwortung, und am Set (wo die Organisation quasi halb-militärisch ist), muss er normalerweise all die grossen Entscheidungen alleine 
treffen. Dass wir zu zweit sind, erleichtert uns die Aufgabe, da wir unsere Ideen besprechen können, gemeinsam darüber nachdenken können, was für den Film das Beste ist, und auf unsere Vorhaben ein unmittelbares Feedback bekommen können.

G.D.: Man fragt uns oft, wie unser Duo funktioniert, wie es möglich ist, zu zweit Regie zu führen, doch letztlich ist es ganz einfach, denn wir treffen alle Entscheidungen bereits im Vorfeld, alles ist schon vor dem Dreh durchdacht und festgelegt. Am Set sitzen wir beide mit Kopfhörern vor dem Monitor, und wenn die Szene im Kasten ist, besprechen wir sie gemeinsam.


Sie haben beschlossen, ein fiktives Werk von Daniel Mantovani wirklich zu veröffenlichen...

G.D.: Der Film zeigt Daniel Mantovani nie beim Schreiben. Wir wollten herausfinden, was seine Arbeit wirklich wert sein könnte. Also beschlossen wir, in Zusammenarbeit mit Random House Mondadori, den Roman eines erfundenen argentinischen Literaturnobelträgers zu veröffentlichen. Zunächst mussten wir entscheiden, wovon das Buch handeln, und dann, in welchem Stil es geschrieben sein sollte. Das Schreiben vertrauten wir einem bekannten Schriftsteller an, den es wirklich gibt, und der trotzdem anonym bleibt. Wir haben vor, auch die sieben anderen Romane von Daniel Mantovani herauszubringen. 



Über MARIANO COHN UND GASTON DUPRAT, REGISSEURE UND PRODUZENTEN

Gastón Duprat und Mariano Cohn arbeiten seit etwa 25 Jahren zusammen. Sie lernen sich 1993 in Buenos Aires auf einem Festival für experimentelle Videos kennen; der 24-jährige Gastón Duprat sitzt in der Jury, während der gerade mal 18- 
jährige Mariano Cohn einen Kurzfilm im Wettbewerb zeigt. Im Lauf der Jahre unterstützen sie die Produktion und den Vertrieb von zahlreichen Filmen. 1999 erfinden sie eines der ersten Reality-TV-Formate der Welt, Televisión Abierta, das die argentinischen Zuschauer ermutigt, selbst zu entscheiden, welche Inhalte ausgestrahlt werden sollen.

Vier Jahre später gründen sie einen städtischen Kultursender für Buenos Aires, den sie Ciudad Abierta nennen und der ihnen die Gelegenheit bietet, neue Konzepte im Bereich der Massenkommunikation auszuarbeiten. 2012 gründen sie, auch für die Provinz Buenos Aires, einen neuen öffentlichen Sender. Ihre Kino-Laufbahn starten sie 1998 mit dem Dokumentarfilm ENCICLOPEDIA; 2006 drehen sie YO PRESIDENTE, in dem sie, ausgehend von der Rückkehr zur Demokratie 1983, 20 Jahre argentinische Politik-Geschichte aufarbeiten.

2008 drehen sie mit EL ARTISTA ihren ersten Spielfilm. Ein Jahr später präsentieren sie EL HOMBRE DE AL LADO, der in dem einzigen von Le Corbusier auf dem amerikanischen Kontinent erbauten Haus gedreht wird. Der Film wird auf dem Festival de Mar del Plata ausgezeichnet und gewinnt 2010 auf dem Sundance Festival den Preis für die beste Kamera. 2011 folgt QUERIDA VOY A COMPRAR CIGARILLOS Y VUELVO. Zum Dokumentarfilm kehren sie 2013 mit CIVILIZACIÓN und 2014 mit LIVING STARS zurück.

Ihr neuer Film DER NOBELPREISTRÄGER lief 2016 im Wettbewerb von Venedig, wo Oscar Martínez mit der Coppa Volpa für den besten Darsteller ausgezeichnet wurde. In seinem Heimatland verzeichnete der Film über 600 000 Eintritte. Der Film ist der viert-erfolgreichste argentinische Film des Jahres und übertrifft sogar das Einspielergebnis von INSEPARABLES, dem argentinischen Remake von ZIEMLICH BESTE FREUNDE, in dem übrigens Oscar Martínez die Rolle von François Cluzet übernimmt.


Foto:
Hier freut sich Mantovani noch, seinen alten Freund, der seine verlassene Freundin ehelichte, wieder zu sehen © Verleih

Info: Abdruck aus dem Presseheft zum Film 

Darsteller

Daniel Mantovani     Oscar Martínez
Antonio                     Dady Brieva
Irene                         Andrea Frigerio
Nuria                         Nora Navas
Bürgermeister           Manuel Vicente
Julia                          Belén Chavanne
Florencio Romero     Marcelo D’Andrea
Vater von Julián        Gustavo Garzón
Rezeptionist             Julián Larquier
Roque                       Nicolás de Tracy