Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. November 2017, Teil 15
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wir haben am Donnerstag unsere Filmkritik zu COCO veröffentlicht. Wie überall eine sehr positive Besprechung dieses Films von Disney Pixar, dessen Untertitel übrigens lautet: LEBENDIGER ALS DAS LEBEN!
Auf was sich das bezieht? Das ist nicht so ganz klar, aber wir behaupten mal, es solle bedeuten, daß das eigentliche Leben nach dem Leben abgeht, dann nämlich, wenn die offiziellen Toten mindestens einmal im Jahr sich im Totenreich versammeln und derartig einen draufmachen, daß kein Fest unter Lebendigen da mithalten könnte. Aber uns geht es überhaupt nicht um Konkurrenz, sondern um die allumfassende und unwiderstehliche Einbeziehung der Toten ins Leben in der mexikanischen Gesellschaft. Denn jeder Lebendige wird im allgemeinen mexikanischen Verständnis als ein Noch-Lebender verstanden, der die Schwelle zum Tod nur ‚noch nicht‘ überschritten hat, die zudem extrem durchlässig ist, denn die Toten können sie im Einzelfall zurück ins Leben durchschreiten.
Zu den Toten gleich mehr. Erst einmal eine Rechtfertigung für den Begriff MEXICANIDAD, den es im Deutschen überhaupt nicht gibt, von dem aber wohl alle fühlen, was er bedeutet. Eben ein die ganze mexikanische Gesellschaft durchdringendes Prinzip. Das wäre zum einen der Einbezug der Toten ins Leben. Das wäre aber auch die dominante Rolle der Familie, in der noch wie ehedem die Anciennität gilt, die sich paart mit der Seniorität, was einfach heißt, daß die Ältesten das Sagen haben. Dies galt früher überall, auch in unserer Gesellschaft, tradiert aus der griechischen Antike, wo die Alten die Weisen waren, und alle klugen Leute in Abbildungen, beispielsweise in Statuen, im Greisenalter dargestellt waren, selbst wenn sie noch jung waren, aber in Mexiko hat sich das Altersprinzip länger gehalten als anderswo. In der Familie von Miguel Rivera, dem kindlichen Hauptdarsteller, der aber ganz genau weiß, was er will, ist es die rabiate Großmutter, die das Heft - und manchmal auch die Bratpfanne - in der Hand hält und ihre Herrschaft streng ausübt. Jeder hat Angst vor ihren Ausbrüchen, aber jeder liebt sie, weil sie auch Halt, Schutz und Liebe gibt.
Filme haben als bewegte Bilder grundsätzlich einen universellen Anspruch. Es muß sie jeder verstehen können, ohne zuvor die Handlung oder den Hintergrund zu kennen oder gar über Recherchen erforscht zu haben. Wenn also allerorten eine derart positive Rückmeldung auf COCO erfolgt, sowohl seitens der Kritik wie auch des Publikums, haben die Filmemacher erst einmal alles richtig gemacht. Wenn aber dann diejenigen, die Mexiko besonders gut kennen, das sind neben den Mexikanern selbst, dann diejenigen, die sich immer wieder oder auch lange dort aufgehalten haben, wenn also auch diese COCO bescheinigen, der Film sei typisch mexikanisch, verkörpere eben MEXICANIDAD, dann sind solche Aussagen für das Team um die Regisseure Lee Unkrich und Adrian Molina ein Gütesiegel sondergleichen. Und das gilt erst einmal für diesen Film grundsätzlich, zu dem dann noch hinzukommt, daß er darüberhinaus als Animationsfilm hervorragend gemacht ist und anhand des Día de los Muertos mitten hineinzielt in das mexikanische Herz, also ein wahrhaftiger Film ist.
Weshalb ich mir solche Aussagen zutraue? Weil ich bis zum Jahr 1991 schon dreizehnmal in Mexiko war und – das fiel mir erst wieder ein, als ich unbedingt zu COCO noch etwas beitragen wollte – leider das Angebot der Universidad von Guanajuato (das ist dieses Städtchen, ein Kleinod, das zu den vier Barockstädten nördlich von Mexico Ciudad gehört, wo im übrigen Diego Rivera 1886 geboren wurde, eine andere Barockstadt ist Querétaro, wo Kaiser Maximilian, der Habsburger 1867 hingerichtet wurde) abgelehnt hatte, eine einjährige Gastprofessur zu übernehmen, was je ein halbes Deputat deutsche Kultur sowie deutsche Sprache beinhaltete. Das war die Zeit, wo ich starkes Interesse an der mexikanischen Indioforschung hatte, an den Lacandonen, die damals Furore in Mexiko machten.
Vorbei. Aber immerhin ist der Totenkult in tiefer Erinnerung geblieben, wozu die über einen Meter großen Skelette beitragen, die man damals einfach nach Hause schleppen mußte, meist als Musikband im Dreierpack, wie all die anderen Totendevotionalien, die heute bei mir zu Hause an der Wand hängen oder herumstehen, ach ja, und das herrliche Tongeschirr, von dem sich erst zu Hause herausstellte, daß es zwar in Mexiko allüberall verwendet wird, aber als extrem bleihaltig fast lebensgefährlich ist. Aber all das bedeutet Erinnerung, die wir über Gegenstände individuell am Leben halten.
Demgegenüber ist der Día de los Muertos oder de Muertos gerade die institutionalisierte Erinnerung. Die Erinnerung an Menschen, die zu Toten wurden, die aber, so lange man ihrer gedenkt, noch nicht völlig entschwunden sind. Das gilt auch für unsere Gesellschaften, daß wir das Gefühl haben, daß die Menschen, die wir liebten und die sterben mußten, irgendwo in dieser Welt noch existent sind, solange wir noch an sie denken. Aber das ist privat und individuell und unterscheidet sich fundamental zu der mexikanischen Sitte und Lebensart, mindestens einmal im Jahr der Toten zu gedenken und daraus ein Fest zu machen.
Allerdings muß man berücksichtigen, daß es nicht den, also den einzigen Tag des Totengedenkens gibt. Mexiko ist viel zu vielfältig und von so vielen lokalen Bedingungen abhängig, so daß sich dieses Ereignis in ganz Mexiko zwischen dem 31. Oktober bis zum katholischen Allerseelen am 2. November erstreckt und manchmal alle drei Tage durchgefeiert werden. Ab Mitte Oktober bereitet man sich intensiv auf den Día de Muertos vor. Das ist so ähnlich wie bei uns, wo Weihnachten und Ostern schon viele Wochen vorher als Zuckerzeug etc. in den Geschäften kommerzialisiert wird. Und auch bei uns gibt es regionale Besonderheiten, obwohl wir, wenn man es genau überlegt, immer einheitlicher, gleichgeschalteter werden und überall die Weihnachtsmärkte und Weihnachtsbäume dieselben werden. Das ist in Mexiko immer noch anderes, wo sich lokales Brauchtum noch durchsetzt.
Damit dies so bleibt, wird das mexikanische Totenfest seit 2003 von der UNESCO geschützt. Es ist erst als Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit ernannt worden und wurde dann 2008 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit übernommen. Das ist ein fast defensiver Akt. Denn wie überall überrennen US-amerikanische Sitten und Gebräuche auch das benachbarte Mexiko im Besonderen. Es ist ein Ausverkauf der heimischen Riten zugunsten der besonders gut verkäuflichen Masken und Kostüme etc., dieses Halloween, längst als kommerziell besonders einträglich erkannt und benutzt. Es geht um Geld und um eine Gleichschaltung der Welt unter US-amerikanischer kultureller Vorherrschaft.
Darum rührt einen geradezu diese liebevolle Hommage an den mexikanischen Día de Muertos seitens Hollywood, der tatsächlich das Wesen mexikanischer Lebensart in der Erinnerung ihrer Toten auf die Leinwand bannt. Damit man dies später einmal in diesem animierten amerikanischen Film sehen kann, wie es war, als die Welt noch ihre regionalen Eigenarten hatte. Wie dieser Tag, diese Tage nun konkret verlaufen, wenn die Lebenden die Toten ins Leben zurückholen, das können Worte schwer wiedergeben, deshalb sollten Sie den Film COCO unbedingt anschauen, denn in Bildern zeigen kann man es.
Filmkritik vom 30. November:
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Fotos: © Verleih
Info:
Coco - Lebendiger als das Leben! (USA 2017)
Originaltitel: Coco
Genre: Animation, Familienfilm
Filmlänge: 100 Min.
Regie: Lee Unkrich
Drehbuch: Lee Unkrich, Adrian Molina
Originalsprecher: Anthony Gonzalez, Benjamin Bratt, Gael García Bernal, Alfonso Arau, Cheech Marin u.a.
Deutsche Sprecher: Heino Ferch u.a.
Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Germany
FSK: ab 0 Jahren
Kinostart: 30.11.2017
Die Premiere des Films wurde am 20. Oktober 2017 beim Morelia International Film Festival in Morelia gefeiert. In Mexiko kam er landesweit am 27. Oktober 2017 in die Kinos, das war 2017 das Wochenende vor dem Tag der Toten. Allerdings wurde er in Mexiko umbenannt in VIVA, weil auf Portugiesisch „cocô“ ein Schimpfwort ist, was leicht verwechselt wird. In den USAlief COCO am 22. November an und in Deutschland am 30. November.
In den Vereinigten Staaten kam der Film nach seinem Start sofort auf Platz 1 der Kino-Charts. Die weltweiten Einnahmen des Films belaufen sich bislang auf rund 155 Millionen US-Dollar. Wenigstens ist das viele Geld für etwas Sinnvolles ausgegeben worden.