berl18 norHanswerners BERLINALE Tagebuch (6)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Gestern hatte ich gerade das Tagebuch, in dem ich über lange Filme klagte, an die Redaktion geschickt. Bald darauf ging ich vorzeitig aus einem langweiligen Schweden-Film im Wettbewerb, der von einer geerbten Immobilie in Stockholm erzählt. Ich wäre noch früher gegangen, hätte es nicht die Kamera gegeben, die hautnah in das Gesicht der älteren Immobilien-Erbin schaut und eindringliche Bilder schafft!

Ich mag nicht, wenn Kollegen Festivalfilme beschreiben, wenn sie erst viel später in die Kinos gekommen sind. Aber heute muss es mal - ganz kurz - sein:

Ein Film („Herederas“) über zwei ältere lesbische Frauen in Paraguay, die sich am Film-Ende trennen: Die Bilder sind durchgängig dunkel und unscharf, als seien die Protagonistinnen hinter Schleiern verborgen. Das entspricht ihrer Situation in diesem, von Männern dominierten Land, Frauen spielen dort heute (!) keine Rolle mehr, sagten sie in der Pressekonferenz.

In den 1970er-Jahren passte sich ein russischer Poet („Damsel“) nicht an und durfte, wie viele seiner Künstlerkollegen, nichts veröffentlichen oder ausstellen. Außerhalb seiner Wohnung sind die Aufnahmen grobkörnig und unscharf. Auch diese Bilder signalisieren das Verschwinden, das Nichtvorhanden-Sein der unabhängigen, aber ausgegrenzten Künstler.

Und vorgestern sah ich einen italienischen Film („Figlia mia“) über eine Elfjährige im Zwiespalt zwischen ihrer leiblichen Mutter und der, bei der sie aufwächst. Die Handkamera zeigt ständig leicht wackelnde Bilder - und macht so die Hilflosigkeit und Unsicherheit aller drei Menschen, auch auf der Bildebene, deutlich.

Gerade komme ich aus dem Film Utøya“, der das norwegische Attentat auf ein Jugendcamp nachstellt. Eine kurze Einführung, dann zeigt der Film 72 Minuten lang, in Echtzeit mit der Handkamera, das Geschehen lediglich aus der Perspektive des Opfers Kaya. Unglaublich, wie Zeit, Kamera und natürlich die Schauspielerin einen in diesen Film hineinziehen, Angst und Hilflosigkeit spürbar machen können!

Foto:
Kaya (Andrea Berntzen) in Utøya © Agnete Brun