Der Wettbewerb der 68. Berlinale vom 15. bis 25. Februar, Film 11
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Schwierig. Es ist nichts Neues, daß persönliche oder staatliche Gräueltaten im Kino widergespiegelt werden. Aber persönlich muß ich sagen, daß der Schock des Gemetzels in Oslo und dann insbesondere auf dieser Insel, auf der die sozialdemokratischen Arbeiderpartei Norwegens alljährlich ein Sommerferienlager abhält, in mir noch so stark wirkt, daß ich das eigentlich nicht sehen will, wenn ich nicht muß, wie hier, wo ich über den Wettbewerb auf der Berlinale berichte.
Was ist der Unterschied zwischen dieser Verfilmung und den Tributen von Panem beispielsweise, wo auch Jugendliche um ihr Überleben kämpfen. Wir haben nur eine Leinwand, auf der man Filme sieht. Auf der wird meistens eine erfundene Geschichte erzählt. Ab und zu wird auch die Wirklichkeit in einem Dokumentarfilm abgebildet. Und natürlich wird immer wieder ein Ereignis aus dem Leben nachgespielt. Auch Verbrechen. Aber das Massaker in Norwegen hat angesichts des Alters der meisten Opfer und der Anzahl der Toten einen besonderen Stellenwert. Auch für mich. Wie erst in Norwegen.
Warum ich dann den Film gut anschauen konnte, hat mit der von mir absolut begrüßten Entscheidung zu tun, den norwegischen Massenmörder – einen rein norwegischen, ohne irgendwelche ausländischen, geschweige denn muslimischen Wurzeln – überhaupt nicht zu zeigen, auch nicht zu benennen, was wir auch nicht tun werden.
Warum soll man sich das ansehen? Dieses Grauen. Das war nicht nur meine Frage, sondern die, die sich der Regisseur Erik Poppe selber stellte. Für ihn ist klar, daß er zeigen möchte, was Rechtsextremismus bedeuten kann, wo ja die Presse und das Fernsehen voll ist von Al-Quaida und dem IS-Staat. „Grundsätzlich war ich der Meinung, daß ein solches Unglück, das Worte nicht mehr beschreiben können, was den Kindern und Jugendlichen passiert ist, in Bildern zu zeigen.“, äußert der Regisseur. Die Angst der Jugendlichen war für ihn das Entscheidende.
Der Regisseur antwortete in der Pressekonferenz auf die Frage, was ihm die Kraft gegeben habe, sich mit dieser nationalen Tragödie filmisch zu beschäftigen, daß das nationale Trauma dringlich erforderlich mache, sich mit der Angst, der Todesangst zu beschäftigen, die ja dadurch noch einmal verstärkt wurde, daß Schüsse fielen, von denen die Jugendlichen nicht wußten, wer sie abfeuert, woher die Gefahr überhaupt kommt. Die Polizei schießt, war so eine Aussage der Jugendlichen, die auf Unverständnis der vor den Schüssen Fliehenden trifft. Andere glauben, daß es sich hier um eine Übung handelt und als ein Jugendlicher tatsächlich die Polizei per mobilem Telefon erreicht, fragt er genau nach dieser Übung.
Auf der Pressekonferenz sitzt nicht nur mit der 19jährigen Andrea Berntzen die Hauptperson Kaja, die den Film trägt, sondern anwesend sind auch alle jugendlichen Schauspieler, die im Film überleben – und auch nicht. Der Film ist nur dem Äußeren nach eine Darstellung der Katastrophe. Es waren Regisseur und Drehbuchschreiber darauf bedacht, daß eine fiktive Geschichte erfunden wird. Dieses Mädchen Kaja mit ihrer Schwester hat es nicht gegeben und auch die anderen Figuren nicht. Das war wichtig, weil kein Überlebender sich und auch nicht die Familien der Toten ihre Tochter/ ihren Sohn im Film wiedererkennen sollten.
Warum kein Dokumentarfilm, wurde Erik Poppe gefragt und ist – völlig zu Recht – der Meinung, daß manchmal Spielfilme mehr Wahrheit ausdrücken können als die Wirklichkeit. Die Schauspielerin Andrea Berntzen wird gefragt, was das Massaker für ihre Generation sei. Der Verlust der Unschuld für eine ganze Generation. Sie antwortet, daß sie damals zwölf Jahre alt war, als es passierte und sie persönlich nicht viel Erinnerung hat. Nur Angst. Als sie von dem Film hörte, hielt sie eine Verfilmung für zu früh. Aber als sie das Drehbuch las, in dem der Täter ausgespart ist, war sie einverstanden. Und daß der gesamte Film aus einer langen Einstellung besteht, ohne Schnitt, ohne Musik, hat sie dazu gebracht, mitzuspielen.
Und sicher ist die Aussage der jungen Schauspielerin genau der Grund, warum man nach kurzer Zeit atemlos dem Film folgt, tatsächlich gebannt und gar nicht mehr mitbekommt, daß man hier einen Film sieht, sondern dem Geschehen zusieht, wenn 72 Minuten lang die Kinder und Jugendlichen erst versuchen, herauszubekommen, was es mit den Schüssen auf sich hat und dann in alle Richtungen fliehen, wobei die Kamera bei Kaja bleibt, die erst, also noch vor den Schüssen, ihre jüngeren Schwester sucht und im Zelt findet. Da bemerkt man schon, daß diese Kaja ein äußerst verantwortungsvolles Mädchen ist, daß sich immer um die anderen kümmert, bevor sie an sich selbst denkt.
Und dann fallen die Schüsse. Man hört sie deutlich, aber nicht sofort werden sie als Gewehrschüsse wahrgenommen und als dies Knattern – wir vermuten, daß die im Film abgegebenen Schüsse den Toten entsprechen, obwohl: sicher gab es auch Fehlschüsse – als dies Knattern ertönt, fährt man auch im Kinosessel ganz schön zusammen. Erst wird vermutet, daß es sich um eine Übung handelt, dann ruft jemand, die Polizei schießt. Auf jeden Fall ist ein Junge clever genug, bei der Polizei anrufen und auch durchzugeben, daß hier geschossen wird. Ein anderes Mädchen telefoniert mit der Mutter und berichtet von den Schüssen. Überhaupt spielen die Handys eine große, wenngleich kaum hilfreiche Rolle.
Diese 72 Minuten der Flucht einer Gruppe miteinander befreundeter Jugendlichen, die sich verlieren, dann wieder finden, neue Personen tauchen auf, Verwundete liegen auf dem Boden, den Tod eines jungen Mädchens bekommen wir unmittelbar mit, auch, wie Kaja ihr beim Sterben zur Seite steht, diese 72 Minuten sind ohne Schnitt gedreht. In der Pressekonferenz spricht der Regisseur davon, daß sie fünf Durchgänge gefilmt hätten. Die übrigen Minuten bis zur Gesamtlänge von 91 Minuten gelten den unkommentierten Aufnahmen des Attentats auf das Regierungsgebäude in Oslo und dem Leben der Jugendlichen auf der Insel vor den Schüssen.
Weitere Aussagen des Regisseurs: Diesen Film anzuschauen, muß wehtun. Es ist hart, aber für den Regisseur ist das Teil des Heilungsprozesses, denn, wenn der Film nicht mehr wehtut, ist es zu spät.
„In Norwegen haben wir bis heute nicht entschieden, ob und wie ein Denkmal an das Massaker erinnern soll.“
Als dann Überlebende zu den Dreharbeiten sprechen sollten, wird es einem schon unheimlich, denn soviel Wirklichkeit sprengt einen Spielfilm und auch eine Pressekonferenz gefühlsmäßig, auch wenn die Aussage der jungen Frau, die das Massaker überlebte, sie wolle vor Rechtsradikalismus warnen, was dem Film gelinge, großen Beifall hervorruft.
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