Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Man glaubt es nicht, wie poetisch und grazil man eine Geschichte von Beschäftigten in einem Großmarkt, deren Haupttätigkeit im Gabelstapelfahren und Gabelstapeln besteht, erzählen kann. Man glaubt es nicht, bis man IN DEN GÄNGEN gesehen hat.
Poetisch und grazil? Dabei ist gerade Stapelfahren, die Aufgabe unserer Protagonisten, sehr konkret. Man muß auf die Aufgabe konzentriert bleiben, denn, wenn nicht, passieren gleich Unglücke, die Sachen, aber eben auch Menschen betreffen. Von daher ist es einfach eine Überraschung für den Zuschauer, was sich vor seinen Augen IN DEN GÄNGEN, sprich: in den Schluchten dieses Großmarktes entwickelt, wenn wir mit Christian (Franz Rogowski) diesen Großmarkt betreten. Wir wissen gleich, daß er hier eine neue Stelle antritt und erfahren später, daß er zuvor auf dem Bau gearbeitet hatte und gefeuert wurde, weil er seinem übergriffigen Chef eine klebte. Daß er als Jugendlicher sogar zwei Jahre einsaß, weil er mit Kumpeln Geschäfte ausgeraubt hatte, das muß er sehr viel später zugeben, als sein Vorarbeiter Bruno (Bruno Kurth) ihm das auf den Kopf zusagt.
Nicht aus Häme, ganz und gar nicht, denn in diesem Großmarkt herrscht eine überraschend freundschaftliche Stimmung unter den Angestellten, die sich als Menschen wahrnehmen und auf einander acht geben, ohne daß dies in sozialer Kontrolle ausartet. Und wenn das Urteil: Der Fisch stinkt vom Kopf her, stimmt, dann gilt dies auch umgekehrt und der so menschliche und zugewandte Filialleiter ist gewissermaßen das I-Tüpfelchen in dieser Gemeinschaft von Menschen, irgendwo in Sachsen.
So ein Vorgesetzter ist im Kino schon mal etwas Besonderes, denn im Kapitalismus herrschen andere Gesetze, die auch der Film normalerweise reflektiert, da geht es um Vorgaben von Zeit und ökonomischen Ergebnissen. Aber hier ist noch eine Mitmenschlichkeit vorhanden, die, wenn man die eigenen Erinnerungen befragt, mir eine Grundstimmung in der alten DDR war. Sicher nicht überall, aber da, wo ich selber als Besucherin Erfahrungen machen konnte, war es so. Und die Angestellten in diesem Großmarkt sind alles in allem alles Wendeverlierer. Sie sind übrig geblieben von der ehemaligen Fernfahrer-VEB, die von der Treuhand liquidiert wurde, abgewickelt, wie man technisch sagte, wobei allein die Bezeichnung TREUHAND schon unglaublich verlogen ist, wenn man weiß, was dort passierte. Filme über die Treuhand, darauf warten wir noch. Aber wie IN DEN GÄNGEN zeigt, braucht manches länger, aber es kommt.
Hier also im Großmarkt kennen sich die Leute schon lange, kennen die häuslichen, die privaten Probleme und helfen sich gegenseitig, verpfeifen sich nie. Denn es sind zwar alle arbeitsam, aber jeder hat eine Schwäche, wie beispielsweise Bruno, von dem gleich die Rede ist, der die 15 für sich reklamiert, 15 Minuten Pause, die sich schon mal zu einer Stunde ausdehnen können, je nachdem wie lange das Nachspielen der Schachpartie des russischen Weltmeisters Karpow dauert. Der von Marion (Sandra Hüller), der Gabelstapelfahrerin bei Süßwaren, später frech und verwegen FRISCHLING genannte neue Kollege Christian wird von diesem Bruno (Peter Kurth), dem er zugeteilt ist und bei dem er Gabelstapelfahren lernen soll, erst mal zur Brust genommen. Unwirsch bedeutet er ihm, er brauche keine Hilfe, ob man ihn ausmustern wolle, und weist ihn an, aufeinanderstehende Bierkästen ins Regal zu ordnen, was der Neuling umstandslos macht, wobei nach der xten Kiste Bruno kommentiert: „Bestanden“. Es war ein Test, ob der Junge was taugt und arbeiten will.
Im Nachhinein mag man gar nicht mehr glauben, daß man einem Film von 125 Minuten atemlos folgte, in dem es immer wieder um das Gabelstapelfahren geht und auch die höhere Ordnung, wenn Christian sogar „die Ameise“ bedienen darf, ein noch viel komplexeres Gefährt. Diese Mischung zwischen konkretem Tun und den sozialen Beziehungen in den Gängen dieses Großmarkts schlägt einen in Bann, wozu gehört, daß wir es hier mit den Nachtarbeitern, zumindest der Spätschicht zu tun haben, denn es geht um das Auffüllen der von den Kunden weggekauften Waren, den Lücken. Und nachts sind nicht nur alle Katzen grau, sondern es herrschen auch unter den Menschen andere Verhältnisse.
Da bahnt sich was an zwischen dem Neuen und Marion – und zwar eindeutig von ihr initiiert. Sie macht ihm nicht direkt schöne Augen, sondern behandelt ihn so ein bißchen spöttisch. Das sind zumindest ihre Worte, aber ihre Augen blicken ihn derart liebreizend an, daß man schluckt. Da ist es nicht nur um Christian geschehen. Wenn man Sandra Hüller schon in ihrer gnadenlosen Präsenz in TONI ERDMANN bewunderte, so lernt man hier eine ganz neue Facette ihrer Darstellungsmöglichkeiten kennen: ein liebenswerter und liebender Mensch, der nicht weiterkann und darf, als das in Blicken anzudeuten, was möglich wäre, denn sie ist verheiratet, wie Christian von den anderen erfährt, unglücklich verheiratet, weshalb die Belegschaft ja zu den beiden hält, auch wenn sie gar kein Paar sind. Kann ja noch werden.
Die berührendste Figur im Film bleibt dennoch Bruno, wo man auch Peter Kurth, der eines der Gesichter aus vielen Fernsehspielen trägt, Respekt und Hochachtung übermitteln möchte. Er macht die Figur des Bruno zu einer Charakterstudie, vermittelt zum einen den Schmerz des Mannes Bruno, zeigt zum anderen deutlich, wie Ältere mit Jüngeren umgehen sollten: im Anspruch, auch dem sicheren Umgang mit dem Gabelstapler, nicht nachgeben, aber dem Neuen alle Tricks und Kniffe beibringen, damit er im Haifischbecken der Berufswelt überlebt, wie ein väterlicher Freund eben. Später, als etwas Schlimmes passiert, wissen die Kollegen erst, daß es die Frau, zu der Bruno jeden Abend nach Hause zurückkehrte gar nicht gab.
Im Film kommt einem ziemlich schnell das alles zwar nach Deutschland vor, aber es herrscht immer wieder eine fast surreale Stimmung unter den Menschen und auch ein künstliches Licht, das man aus nordischen sonnenarmen Filmen, insbesondere Finnlands kennt. Ja, es ist auch der Humor, die Kleinigkeiten des Alltags, die hier ironisch gebrochen dem Film eine Wärme, ja einen Witz geben, den man beispielsweise von den Filmen von Kaurismäki kennt.
Für Deutschland ist das neu. Regisseur Thomas Zuber sagt von sich selber, daß er bisher für Humor nicht zuständig war, führt zudem genau diese Komik und Menschlichkeit auf die Kurzgeschichte von Clemens Meyer zurück, die beide zusammen zu diesem Drehbuch verarbeiteten. Er betont: „Wir haben keinen politischen Film gemacht.“, aber genauso gut gilt auch: „Jede Kunst ist politisch“, nämlich auch insofern, indem sie aufzeigt, was wem nützt und wie Dinge zusammenhängen. Ja, auch dieser Film ist immer noch der Teilung Deutschlands verhaftet und dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik, Wende genannt. Viel ist durch das einige Deutschland gewonnen, wovon dauernd gesprochen wird, aber es ist auch viel verloren. Darum geht es fast nie und hier kommt es völlig unsentimental zum Vorschein. Ein stiller, kleiner, großer Film. Einen Goldenen Bären. Warum nicht.
P.S. Schon ungerecht, daß von Franz Rogowski nicht weiter die Rede war. Wir waren bisher nicht unbedingt sein Fan, trotz TRANSIT, wo er schon überzeugend war. Aber hier ist er so sehr eins mit dieser Rolle des Christian, so introvertiert, verloren, aber lernfähig, daß man ihm von Herzen seine Marion wünscht. Wie hieß es beim einst, nämlich schon 1961 aus der DDR exilierten Ernst Bloch? DAS PRINZIP HOFFNUNG. Dieses Buch allerdings schrieb er schon in seinem ersten Exil, als er vor den Nazis in die USA floh. Zu viele Exile.
Fotos:
© berlinale.de
© berlinale.de