Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. April 2018, Teil 3
N.N.
New York (Weltexpresso) - Inwieweit ist LADY BIRD von Ihrem eigenen Leben beeinflusst?
Ich bin in Sacramento aufgewachsen und liebe die Stadt. Mein erster Impuls, diesen Film zu machen, war daher eine Liebeserklärung an einen Ort, der für mich erst wirklich in den Fokus geriet, nachdem ich ihn verlassen hatte. Denn die Tiefe der eigenen Empfindungen für das Zuhause zu begreifen, ist noch einigermaßen schwierig, wenn man 16 Jahre alt und davon überzeugt ist, dass das echte Leben woanders stattfindet.
Keines der Ereignisse in LADY BIRD hat exakt so stattgefunden. Aber dem Film wohnt ein wahrer Kern inne, was Themen wie Zuhause, Kindheit und Aufbruch angeht.
Welche Bedeutung genau hat Sacramento für Sie? Was macht die Stadt zu einem besonderen Ort?
Joan Didion stammt ebenfalls aus Sacramento, und als ich als Jugendliche ihre Texte für mich entdeckte, war das eine Art spirituelles Erdbeben für mich. Das war eine Erweckung, als sei ich in Dublin aufgewachsen und würde plötzlich James Joyce lesen. Sie wurde zu so etwas wie meiner persönlichen Hofdichterin. Ich erlebte zum ersten Mal, dass ein Künstler quasi auf mein Zuhause blickt. Bis dahin dachte ich immer, dass Kunst und Bücher immer von „Wichtigem“ handeln müssten – und ich war mir ziemlich sicher, dass mein Leben nicht sonderlich wichtig war. Aber Didion schrieb – so schön, so klar und spezifisch – über meine Welt. Alle die Frauen, die in ihren Texten vorkamen, kannte ich genau. Die Art und Weise, wie sie ihre Schränke sortierten. Die Dinge, die ihnen wichtig waren. Diese Weltanschauung einer ländlichen Mittelklasse, die diese Ecke der Welt so sehr prägt.
Wenn Leute an Kalifornien denken, haben sie ja meistens San Francisco oder Los Angeles im Kopf. Doch in der Mitte des Bundesstaates befindet sich dieses riesige, von Landwirtschaft geprägte Tal, an dessen nördlichem Rand Sacramento liegt. Die Stadt ist zwar die Hauptstadt Kaliforniens, doch ihr steckt Ackerland in den Knochen. Sie hat so gar nichts Angeberisches, sie versucht keine Marke zu sein oder etwas zu verkaufen. Bescheidenheit und Integrität machen den Ort und seine Bewohner aus.
Wie war es denn damals für Sie selbst, diesen Ort zu verlassen – und warum war diese Komponente so wichtig für die Geschichte von LADY BIRD?
Eine der ersten Szenen, die ich für den Film schrieb, war die College-Szene, in der jemand Lady Bird fragt, woher sie kommt, und sie dann lügt und „San Francisco“ antwortet. Dieses Gefühl tiefer Scham, das entsteht, wenn man verleugnet, wer man wirklich ist, war der Moment, von dem aus ich mich sozusagen zu Beginn der Geschichte zurückarbeiten wollte. Ich wollte einen Film kreieren, in dem sich die Zuschauer persönlich verraten und verletzt fühlen, wenn sie ihr Zuhause verrät. So als kämen sie selbst aus Sacramento und würden die Orte und Menschen persönlich kennen. Lady Bird verleugnet ihre Herkunft gegenüber einem Fremden, den sie gerade erst kennengelernt hat, nur um zehn Prozent cooler zu wirken.
Vielleicht ist es unausweichlich, dass man irgendwann seine Wurzeln ablehnt. Ich bin keine praktizierende Katholikin, aber mich hat die Geschichte der Verleugnung des Petrus immer sehr berührt. Beim letzten Abendmahl bestreitet Petrus aufs Heftigste, was Jesus ihm voraussagt, nämlich dass Petrus ihn dreimal verleugnen wird, noch bevor am Ende der Nacht der Hahn kräht. Und natürlich kommt es allen Beteuerungen zum Trotz genau so, und Petrus verleugnet die Bekanntschaft mit Jesus bei drei Gelegenheiten. Gerade als er das dritte Mal sagt, dass er kein Jünger Jesu sei, kräht der Hahn – und Petrus ist angesichts der eigenen Schwäche von Verzweiflung erfüllt. Doch nach seiner Auferstehung erscheint Jesus Petrus und fragt ihn dreimal, ob er ihn liebe. Petrus bejaht dies jedes Mal. Er bekommt also die Gelegenheit, durch Liebe Buße zu tun.
Solche Geschichten haben immer meine Texte und meine Ideen beeinflusst, wenn es darum ging, hinter vermeintlich „kleinen“ Existenzen eine größere, universelle Wahrheit zu finden. Sicher, Lady Bird verleugnet ihre Herkunft. Aber sie erklärt auch ihre Liebe. Wir alle bekommen die Chance auf Gnade, und wir brauchen die Liebe, um sie annehmen zu können.
Lady Bird lehnt auch ihren Geburtsnamen Christine ab. Warum eigentlich?
Sich einen neuen Namen zu geben, ist sowohl ein kreativer als auch ein religiöser Akt, bei dem es um Urheberschaft geht und darum, durch das Schaffen einer neuen Identität sein wahres Ich zu finden. Ein solcher neuer Name ist also quasi eine Lüge im Dienst der Wahrheit. In der katholischen Tradition bekommt man zur Firmung den Namen nach einem Heiligen, dessen Beispiel man folgen soll. Im Rock- und Pop-Business gibt man sich – siehe David Bowie oder Madonna – einen neuen Namen, um diesen mythischen Raum einnehmen zu können.
Relativ früh während der Arbeit am Drehbuch gelangte ich an einen Punkt, an dem ich nicht weiterkam. Also legte ich alles beiseite und setzte mich vor ein leeres Blatt. Irgendwann schrieb ich darauf: „Warum nennst du mich nicht Lady Bird? Du hattest versprochen, dass du es tust.“ Ich wollte einfach dieses Mädchen kennenlernen, das alle dazu bringt, sie bei diesem seltsamen Namen zu nennen. Wobei der Name aus einem mir nicht erklärlichen Nichts entstanden ist. Bevor ich ihn aufschrieb, hatte ich noch keinen Gedanken an ihn verschwendet. Aber mir gefiel sofort, wie er sich anhört: schwungvoll und irgendwie altmodisch. Durch das Schreiben des Drehbuchs wollte ich mich zum Herzen dieses Mädchens vorarbeiten.
Später fiel mir dann die aus einem alten Kinderbuch stammende Zeile „Ladybird, ladybird, fly away home“ ein. In der zugehörigen Geschichte geht es um eine Gänse-Mutter, die nach Hause fliegt, um sich zu vergewissern, dass ihre Kinder in Sicherheit sind. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie sich solche Dinge in unseren Gehirnen einnisten oder warum sie irgendwann wieder aus dem Unterbewusstsein hervorkommen. Aber für mich ist das ein essenzieller Bestandteil des kreativen Prozesses, dieses unerwartete Auftauchen von Dingen, die man weiß, ohne dass man sich ihrer wirklich bewusst ist.
Die Geschichte des Films ist rund um Lady Birds letztes High-School-Jahr aufgebaut. Warum bot sich gerade dieser zeitliche Rahmen an?
Wenn man ein Teenager in den USA ist, organisiert man sein Leben um diese akademischen Strukturen herum: Freshman Year, also das erste Jahr an der High School, dann Sophomore Year, Junior Year und schließlich Senior Year. Mir erschien es sinnvoll, mich auf das letzte Jahr zu konzentrieren, und ich wollte, dass sich die Geschichte über das komplette Schuljahr erstreckt. All die Rituale, die mit diesem Jahr einhergehen. Und diese Kreisförmigkeit, durch die wir dort enden, wo wir angefangen haben. Diese Schullaufbahn ist eine nach oben führende Spirale. Das letzte High-School-Jahr überstrahlt dabei alles – und verschwindet letztlich genauso schnell, wie es gekommen ist. Wenn etwas dem Ende zugeht, gibt es eine gewisse Klarheit, nicht zuletzt weil man ein Gefühl des Verlusts antizipiert und vieles zum letzten Mal passiert. Das gilt in diesem konkreten Beispiel für Eltern und Kinder gleichermaßen. Das ist etwas Wunderschönes, das man erst wirklich versteht und zu schätzen weiß, wenn es eigentlich zu spät ist. Dieses Gefühl von Zeit, die vergeht, ja an uns vorbeirast, ist eines der Themen des Films, deswegen stolpert eine Szene in die nächste. Denn natürlich können wir diese Momente nie festhalten.
FORTSETZUNG FOLGT
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Info:
BESETZUNG
Rolle Schauspieler Synchronstimme
Lady Bird SAOIRSE RONAN Lydia Morgenstern
Marion LAURIE METCALF Madeleine Stolze
Priester PAUL KELLER Frank Röth
Julie BEANIE FELDSTEIN Emily Gilbert
Mr. Bruno KAKE MCDORMAN Armin Schlagwein
Sister Sarah Joan LOIS SMITH Katharina Lopinski
Miguel JORDAN RODRIGUES Constantin Jascheroff
Larry TRACY LETTS Peter Reinhardt
Shelly MARIELLE SCOTT Anja Thiemann
Jenna SEDONA FERETTO Lina Rabea Mohr
Danny LUCAS HEDGES Patrick Baehr
Kyle TIMOTHÉE CHALAMET Marco Eßer
Father Walter BOB STEPHENSON Werner Böhnke
Father Leviatch STEPHEN HENDERSON Reinhard Scheunemann
gekürzter Abdruck aus dem Presseheft von UPI