Bildschirmfoto 2018 04 29 um 11.12.45Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. April 2018, Teil 14

N.N.

Paris/Athen/Istanbul (Weltexpresso) – In Ihren Filmen geht es immer um starke Frauen – Einzelgängerinnen, die sich auf den Weg machen und Abenteuer erleben.

Das sind die Frauen, die ich liebe. Céline Sallette in GERONIMO. Asia Argento in TRANSYLVANIA.
Filme über Opfer zu machen, spricht mich nicht an.


Erzählen Sie von der Szene, in der Djam auf das Grab ihres Großvaters pinkelt.

Sie kündigt es klar und einfach an: Ich pinkle auf das Grab derer, die Musik und Freiheit verbannen! Sie muss es tun, so einfach ist das. Aber sie sagt es ohne Wut oder Hass. Djam ist nur ein einziges Mal in dem Film gewalttätig, und zwar, als sie den Repo-Mann mit einer Waffe bedroht. Umgekehrt ist es Wut, die Avril dazu bringt, sich auf der Straße auszuziehen. Da hat sie ähnlich viel Stolz wie die Zigeuner.


Wo wir schon von Avril sprechen: Der Sänger, den sie und Djam am Bahnhof treffen, bemerkt die Ähnlichkeit, die sie mit den Frauen aus dem 16. Jahrhundert hat.

Ihr Aussehen ist nicht modern. Auf ihrer Haut und ihrem Gesicht kann man „Aufklärung“ und „Französische Revolution“ lesen. Es ist eine riesige Kultur, die ihr total fremd ist. Sie verwendet sie nicht, sie hat sie nie gekannt und beschreibt eine Banlieue als ihre Heimat. „Wo kommst du her?“, fragt Djam. „Aus der Banlieue“, antwortet sie, als wäre das ein Land oder eine Region. Sie hat zwar keinen Zugang zum Singen oder der Musik. Aber es braucht nur ein Wort, um sie zum Tanzen zu bringen. Sie ist nicht wie die Griechen, die immer noch zusammen kommen, um Lieder zu singen, die uralt sind, und so an ihre Vorfahren zurückdenken. Das Wiedererkennen der Schönheit aus vergangenen Zeiten, als Frankreich die Wiege der Aufklärung war, in der Schönheit ihres Gesichts, bringt eine Art Erbschaft zum Vorschein, von der sie nicht wusste, dass sie sie in sich trägt.


Sie scheint sich von der griechischen Kultur angezogen zu fühlen.

Durch das Treffen mit diesen Leute hat sie Vertrauen gefunden – den Glauben daran, zusammenzuhalten und auf andere zuzugehen. Rembetiko fördert das Teilen.


Sie haben zuvor noch nie mit Simon Abkarian zusammengearbeitet.

Für die Rolle von Kakourgos, Djams Onkel, wollte ich einen Schauspieler, dessen Gesicht eine Reise widerspiegelt. Wir wussten zwar bereits, dass Simon Armenier ist, aber nicht, von wo genau er kommt. Er personifiziert das Exil. Wir kennen uns schon eine ganze Weile, und ich wusste, dass Simon ein wahrer Fan der Rembetiko-Musik ist. Als ich ihn bat, mir die Szene vorzuspielen, in der er über Djams Mutter spricht, die im Pariser Exil starb, machte mir Simon mit seinen Emotionen und seiner Ernsthaftigkeit ein wahres Geschenk. Das muss er wohl auf seinen Reisen durch Armenien, den Libanon und sonstige Ländern gesucht und gefunden haben.


Sie stellen einen Kontrast zwischen der extraordinären sinnlichen Präsenz von Djam und Avril und der unkörperlichen Präsenz der Migranten her – Inschriften auf den Wänden des Bahnhofs, gelöschte Lagerfeuer ...

Ich habe die zwei jungen Frauen sehr bewusst auf eine Reise auf den Spuren der Migranten geschickt, die von Istanbul nach Edirne wandern, um den Fluss Arda zu überqueren – einen sehr  tiefen Fluss, der 20-30 Meter breit ist und die Grenze markiert – um endlich Kastanies in Griechenland zu erreichen. Die Migranten werden nachts von Schmugglern in kleinen, aufblasbaren Booten über den Fluss geschubst. Wenn sie die andere Seite erreichen, müssen sie zum Bahnhof in Didymoticho. All diese Migranten gehen durch diesen Bahnhof und ich war mir sicher, ich würde dort Zeichen finden, die auf ihre Präsenz hindeuten. Als wir am Tag des Drehs dort mit den Schauspielern ankamen, fand ich halb verbrannte Holzscheite und bemerkte, dass die Migranten Tee gekocht hatten – zurückgelassene, verkohlte Blechdosen und Teebeutel waren der Beweis dafür. Sie hatten alte Eisenbahnschwellen benutzt, um einen Schutzort zu bauen, und mit Holzkohle an die Wände gemalt. Irgendjemand hatte geschrieben: Befrei dich vom Schein. In Aleppo und Idlib wird Blut vergossen. Die Erwähnung des Scheins zeugt von einem bewussten Vorhaben, auszuwandern. Das sind die Spuren, die ich filmen wollte, um Erinnerungen des Exodus‘ der Syrier hervorzurufen, als eine Bezeugung ihrer Reise. Das ist das Bild vom Exil, das ich festhalten wollte.


So wie die Berge von Rettungswesten, die verlassen auf einem leeren Stück Land liegen?

Diesen Haufen von Rettungswesten zu sehen, die außer Sichtweite 100 Meter vom Strand entfernt versteckt lagen, war, als würde man tausend Geschichten aufeinander gestapelt sehen. Migranten brachten diese Rettungswesten mit. Einige davon waren keine echten, und sie mussten einen hohen Preis dafür an die Schmuggler zahlen, bevor sie das Meer überqueren konnten. Viele von ihnen hatten nicht das große Glück, die griechische Küste in Skala Sikamineas zu erreichen. Das liegt auf Lesbos, zehn Kilometer von der Türkei entfernt. Einige Menschen, die diese Westen getragen haben, sind tot.


DJAM hat ein ziemlich optimistisches Ende.

Das ist der springende Punkt an dem Film: Das Leben ist wichtiger als alles andere. Der ganze Rest – Mauern, Länder – ist nur Geld. Wenn ich mich zwischen Geld und dem Leben entscheiden muss, nehme ich das Leben. Auch wenn sehr ernste Dinge auf der ganzen Welt geschehen. Das Ziel derMenschen, die uns zurück in die Vergangenheit werfen wollen, indem sie Grenzen, Betonwände oder Stacheldrahtzäune bauen, ist Geld. Also, ja, ich bin so wie meine Helden auf ihren Booten, die Rembetiko Lieder singen. Wir sind frei, wir existieren. Und ich wähle das Leben.


Wir sind weit von der Verzweiflung von Pano entfernt, dem Griechen, der damit droht, sich in dem Grab, das er mit seinen eigenen Händen geschaufelt hat, selbst zu begraben, nachdem er aus seinem Haus geworfen wurde.

Verstehen Sie das nicht falsch, seine Handlungsweise ist voller Stolz. Zu dieser Szene hat mich ein Zigeuner-Gedicht inspiriert, „Bury me standing up“, das sinnbildlich für das moderne Griechenland steht: Ein Volk, das von der Macht des Geldes zur eigenen Beerdigung gedrängt wurde, aber trotzdem stolz ist und sich nicht unterkriegen lässt. Und hinter diesem deprimiertem Mann steht ein Volk, das singt.


Pano findet Arbeit in Norwegen, während Kakourgos und seine Familie die meiste Zeit von Hafen zu Hafen ziehen. Da ist eine Menge Gewalt auf ihren Bahnen. Könnte man sie als Sinnbild für das momentane Europa sehen, wo die eigenen Bürger gezwungen werden, umzuziehen um leben zu können, während die Grenzen für andere geschlossen werden?

Natürlich! Es ist kein Zufall, dass der Film damit beginnt, dass man einen Zaun sieht, gegen den Djam ansingt. Viele Länder vergessen, was Faschismus ist. Indem sie die Keule des Protektionismus wieder ausgraben, verleugnen sie alles, was passiert ist, seitdem die Berliner Mauer gefallen ist. Sogar in Frankreich, einem Land, das eigentlich den Ruf hat, offen zu sein, scheinen viele Leute bereit, zu vergessen. Auch Djam spricht von diesem Europa, in dem ich mich nicht länger zuhause fühle. Das einzig wahre Europa ist das Europa der Kultur und des Austauschs.


Foto:
Simon Abkarian © Verleih

Info:
Besetzung

Djam             Daphné Patakia
Kakourgos    Simon Abkarian
Avril              Maryne Cayon
Pano             Kimon Kouris
Solon            Solon Lekkas
Vater             Yannis Bostantzglou
Maria            Eleftheria Komi

DAPHNÉ PATAKIA (DJAM)
Daphné wuchs in Belgien auf und machte ihren Abschluss am griechischen Nationaltheater, seitdem kann man sie immer wieder in Major-Produktionen aus ganz Europa entdecken. Bekannt wurde sie durch ihre Rolle in Yorgos Zois‘ INTERRUPTION, der 2015 auf den Filmfestspielen Venedig seine Premiere feierte. Daphné war außerdem 2015 als Gangmitglied in Constantine Giannaris‘ Film SPRING AWAKENING zu sehen. Anfang 2016 wurde sie auf der Berlinale von einer Jury aus Experten zu einem der interessantesten Shootingstars Europas gewählt.

SIMON ABKARIAN (KAKOURGOS)
Seine Kindheit verbrachte der Armenier Simon Abkarian im Libanon, wo es eine große armenische Gemeinde gibt. Danach zog er nach Los Angeles, um Mitglied einer armenischen Theatergruppe unter der Führung von Gérald Papazian zu werden. 1985 zog er nach Paris und trat dem Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine bei. Abkarian hat in ungefähr dreißig Filmen mitgewirkt.