f varda1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. Mai 2018,  Teil 5

Olivier Père

Paris  (Weltexpresso) - Olivier Père: Wie ist dieser Film entstanden? Warum wollten Sie ihn gemeinsam machen?

JR: Lass es uns von Anfang an erzählen.

Agnès Varda: Meine Tochter Rosalie fand, dass es schön wäre, wenn wir uns treffen würden. Die Idee hat uns sofort gefallen.

JR: Ich habe den ersten Schritt gemacht und Agnès in der Rue Daguerre besucht. Ich habe die legendäre Fassade ihres Hauses fotografiert, in dem sie seit 100 Jahren lebt. Und ich habe Fotos von ihr mit einer Katze gemacht.

AV: Deine Großmutter ist 100, nicht ich. Noch nicht. Am nächsten Tag habe ich ihn in seinem Studio besucht, um Porträtaufnahmen von ihm zu machen. Mir wurde schnell klar, dass er seine Sonnenbrille nicht abnehmen würde.

Bildschirmfoto 2018 05 31 um 11.01.30JR: Am nächsten Tag und am Tag drauf haben wir uns zum Tee getroffen.

AV: Ich hatte sofort das Gefühl, dass wir etwas zusammen machen würden. 

JR: Zuerst haben wir über einen Kurzfilm gesprochen ...

AV: ... einen Dokumentarfilm. Es schien klar, dass deine Leidenschaft, riesige Porträts von Menschen an Wände zu kleben, um sie zu würdigen sowie meine Art, ihnen genau zuzuhören und ihre Erzählungen in den Vordergrund zu rücken, zu etwas führen würde.

JR: Und wir wollten gemeinsam auf diese Reise gehen. Weder Agnès noch ich hatten je zuvor mit einer anderen Person zusammen Regie geführt.


OP: Warum haben Sie sich vor allem auf die Menschen in der Provinz konzentriert?

f varda3JR: Agnès wollte mich aus den Städten herausholen.

AV: Das stimmt, denn du bist wirklich ein urbaner Künstler. Und ich liebe das Land. Wir haben uns schnell für die Idee begeistert, in Dörfern zu drehen. Dort wollten wir die Menschen treffen und so ist es auch geschehen. Wir sind in deinem unglaublichen Foto-Truck auf die Reise gegangen. Der Truck ist der Schauspieler in unserem Film, er setzt sich ständig in Szene.

JR: Ich arbeite seit Jahren mit diesem Foto-Truck, ich habe ihn für viele Projekte eingesetzt.

AV: Stimmt, aber dies hier war unser Projekt und wir sind zusammen damit losgezogen. Auf jeden Fall hatten wir viel Spaß dabei, im Truck durchs ländliche Frankreich zu reisen. Mal hierhin, mal dorthin.


OP: Gab es einen Plan oder zumindest eine Reiseroute? Wie haben Sie einen Film entwickelt, der im Wesentlichen auf Zufällen, Begegnungen und Entdeckungen basiert?

AV: Manchmal kannte einer von uns jemandem im Dorf oder hatte eine spezielle Idee im Kopf. Dann sind wir der Sache erstmal nachgegangen. Wie immer bei Dokumentarfilmen – und ich habe eine Menge davon gemacht – hast du eine Idee, aber schon nach kurzer Zeit kommt der Zufall ins Spiel – wen man man kennt und wen man trifft – und plötzlich beginnen sich die Dinge auf eine bestimmte Person oder einen bestimmten Ort zu fokussieren. Tatsächlich lieben wir den Zufall, er ist bei uns als Assistent mit aufgeführt.

JR: Das Leben haben wir auch mit engagiert, denn der Film ist ebenso die Geschichte unserer Begegnung. Wir haben uns auf der Reise bei unserem Projekt und durch die amüsante Erfahrung, als Duo zu arbeiten, kennengelernt. Ich beginne Agnès besser zu verstehen, was sie sieht und wie sie es sieht, und sie versucht ebenfalls meinen künstlerischen Prozess nachzuvollziehen. Wir haben viel geredet und Ideen ausprobiert. Dann haben wir uns einen abendfüllenden Film ausgemalt.

AV: Das war der Punkt, an dem Rosalie die Produktion übernahm.

JR: Du hast gesagt: „Lass uns das machen.“


OP: Der Film ist eine Reise durch Frankreich, aber auch eine Reise durch das Gedächtnis, sowohl das persönliche als auch das kollektive, von Arbeitern, Bauern und Dorfbewohnern.

JP: Wo immer wir auch sind, wir merken ziemlich schnell, ob wir eine Verbindung aufbauen können.

AV: Eine Sache, die ich an dir mag, ist, wie schnell du arbeitest. Sobald wir jemanden treffen, hast du schon eine Vorstellung davon, was wir mit ihm machen können. Zum Beispiel den Postboten, den ich kannte. Ich wollte, dass du ihn triffst. Mir gefallen Briefe und Briefmarken. Du kommunizierst vorwiegend über das Internet und bekommst 20.000 Likes, wenn du ein Bild postest, und hier hast du zugestimmt, diesen Postboten in einen Dorfhelden zu verwandeln, in einem gigantischen Format.

JR: Drei Stockwerke hoch.

AV: Er war stolz, so groß zu sein. Von dort fuhren wir nach Alpes-de-HauteProvence.

JR: Und jemand hat uns von der Fabrik in in der Nähe von Château-Arnoux erzählt.

AV: Das war Jimmy, den ich durch das lokale Kino kannte. Ich habe dort vogelfrei vorgestellt. Er hat uns die Fabrik gezeigt.

f varda6JR: Wir waren neugierig und sind hingefahren. Wir haben die Menschen dort getroffen und ein paar Ideen entwickelt.

AV: Industriegelände sind wunderschön. Und die Menschen, die dort arbeiten, haben ein gutes Herz. 

JR: Sie haben sich bereitwillig für unser Gruppenfoto zur Verfügung gestellt. Bei einigen der Orte, von denen ich dachte, ich würde sie dir vorstellen, stellte sich heraus, dass du dort schon vor Jahren gewesen bist. Denn ich wurde von Fotos inspiriert, die du vor langer Zeit gemacht hast. Und die Collagen im Film sind die Früchte unserer Zusammenarbeit.

AV: Es sind oft meine Fotos, die du an die Fassaden bringst.

JR: Das stimmt.

AV: Zum Beispiel die große Ziege mit den Hörnern. Ich hab das Foto geschossen, als wir auf Locationsuche waren.

JR: Wir haben viel Zeit mit Patricia verbracht, der Frau, deren Ziegen ihre Hörner behalten dürfen, während die anderen sie nach der Geburt sofort abbrennen lassen.

AV: Diese Frau hat eine große Leidenschaft für ihre Arbeit, ihre Ziegen und deren Hörner – ihre Überzeugung war beeindruckend.

JR: Und im Norden haben wir auch einige eindrucksvolle Dinge erlebt.

AV: Die Bergwerke sind heute alle fort, aber wir haben diese Frau getroffen, Jeannine. Sie ist die letzte Bewohnerin einer Straße, in der früher Minenarbeiter lebten. Sie sprach mit uns über ihren Vater, der in den Minen gearbeitet hat. Auch andere ehemalige Minenarbeiter haben uns wunderschöne Geschichten über eine Welt erzählt, von der wir nur sehr wenig wussten. Es war spannend, sie mit solch einer Leidenschaft reden zu zu hören. Jeannine und ihre Geschichte hat uns sehr berührt.

JR: Du gehst wirklich in die Tiefe, wenn du Menschen interviewst. Ich war fasziniert davon, wie du diese Gespräche geführt hast.

AV: Du hast auch viel mit ihnen gesprochen.

f varda4JR: Natürlich. Das habe ich schon immer geliebt bei meinen Projekten, so wie ich es immer bei dir in deinen Filmen beobachtet habe, mit deiner eigenen speziellen Art, die so fein und behutsam ist... und auch feministisch.

AV: Ah, ich bin in der Tat Feministin!


OP: Frauen sind in der Tat sehr präsent im Film.

AV: Ja, JR und ich waren uns einig, dass es wichtig ist, Frauen zu Wort kommen zu lassen.

JR: Es war Agnès Idee. Als ich ihr all die Fotos der Hafenarbeiter von Le Havre zeigte, sagte sie: „Wo sind die Frauen?“ Also habe ich die Hafenarbeiter zurückgerufen und gefragt: „Können eure Frauen zum Hafen kommen?“ Sie sagten: „Hör zu, sie waren noch nie zuvor hier, aber vielleicht ist das die Gelegenheit.“ Es war ziemlich verrückt, dass sie den Hafen durch dieses Projekt kennengelernt haben.


FORTSETZUNG FOLGT

Fotos:
© Verleih

Info I:
INTERVIEW MIT AGNÈS VARDA UND JR, GEFÜHRT VON OLIVIER PÈRE AM 31. JANUAR 2017
Olivier Père ist Generaldirektor von Arte France Cinéma
Abdruck aus dem Presseheft

Info II:
Originaltitel      767Visages Villages (engl. Faces Places)
Produktionsland, -jahr     Frankreich, 2017
Länge      93 Minuten
FSK         ohne Altersbeschränkung
Kinostart .     31. Mai 2018
Regie & Drehbuch     Agnès Varda & JR
Schnitt         Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia
Kamera        Claire Duguet, Nicolas Guicheteau, Valentin Vignet,
Romain Le Bonniec, Raphael Minnesota, Roberto De Angelis, Julia Fabry
Musik           Matthieu Chedid aka -M