f varda9Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. Mai 2018, Teil 6

Olivier Père

Paris  (Weltexpresso) - AV: Drei interessante Frauen, die etwas zu sagen hatten. Es war großartig. Ich war glücklich, sie im Rampenlicht zu sehen, „für das eine Mal“, wie eine von ihnen sagte. Die Hafenarbeiter haben uns geholfen und riesige Container für uns bereitgestellt, die wir nutzen konnten. Wir haben sie wie Legosteine aufeinandergestellt, um Türme zu bauen, Totems. Das muss man einfach gesehen haben, Worte können das nicht beschreiben. Was für ein Abenteuer!

JR
: Wir sollten erwähnen, dass sich die Hafenarbeiter in einem großen Streik befanden. Ich bin immer noch überwältigt, dass sie der Kunst trotz dessen einen Ehrenplatz eingeräumt haben.

AV: Das ist der Gedanke, dass Kunst für jeden da ist. Die Hafenarbeiter haben zugestimmt uns zu helfen, weil sie an einem Kunstprojekt teilhaben wollten.

JR: Einer der Fabrikarbeiter sagte: „Kunst soll uns überraschen!“ Wir haben ihren Alltag gestört, aber sie haben uns akzeptiert. Es gab zu diesem Zeitpunkt viele ernste und komplexe Ereignisse in Frankreich und auf der ganzen Welt, aber wir waren ganz auf unser Projekt fokussiert und die Menschen, denen wir begegnet sind, haben das verstanden.

AV: Ein bescheidenes Projekt in einer Zeit weitverbreiteten Chaos. Den Arbeitern hat auch unsere gute Laune gefallen und die Art, in der du mich aufgezogen hast. Wir waren darauf bedacht, wir selbst zu sein und sie in unser Projekt miteinzubeziehen.


OP: Sie haben eine starke Verbindung entwickelt zu den Menschen, die Sie getroffen haben. Sie erinnern sich außerdem an die Verstorbenen und gedenken ihrer auf Ihrer Reise: Nathalie Sarraute, Guy Bourdin, Cartier-Bresson.

AV: Ja, ich kannte sie. Sich ihrer zu erinnern, bedeutet, sie zurück in die Gegenwart zu holen. Durch Zufall kam ich an Nathalie Sarrautes Haus vorbei und das hat mich glücklich gemacht, aber unser Interesse galt dem Bauern am Ende der Straße, der riesige Flächen ganz allein bewirtschaftet.

JR: Ein anderer Ort, an dem wir gefilmt haben, war ein verlassenes Dorf. Dieser Ort hatte eine Vergangenheit und wir hatten unseren Foto-Truck. Wir haben dort eine Party mit den Einheimischen veranstaltet.

Bildschirmfoto 2018 05 31 um 11.02.15AV: In dieser Nacht haben wir hunderte Gesichter an den Wänden angebracht. Am nächsten Tag sind wir weitergezogen. Wir haben erfahren, dass das Dorf inzwischen abgerissen wurde. Alles verändert sich. Das habe ich immer an Dokumentarfilmen geliebt. Du verbringst ein paar Tage mit einigen Leuten, freundest dich an, verlierst den Kontakt, genau in der Art, wie wir sie in großen kurzlebigen Bildern festgehalten haben, die wieder von den Wänden verschwinden werden. Wir wissen, dass diese Momente magisch sind. Der Moment, in dem man die Menschen trifft, der der Moment, in dem wir filmen, die Bilder anbringen und voilà! Ich liebe das.


OP: Wie lief der Dreh ab?

AV: Wir haben ein oder zwei Trips gemacht und danach eine Pause eingelegt, denn ich bin nicht mehr fit genug, um acht Wochen am Stück zu drehen und unterwegs zu sein. Wir haben zwei bis vier Tage pro Monat gedreht.

JR: Ich denke, das hat gut funktioniert. Es hat uns erlaubt, die Dinge zu durchdenken, zu reflektieren und zu sehen, wohin uns die Reise weiterführt. Wir begannen mit dem Schnitt und haben Stunden darüber geredet, wo es hingehen sollte und auf welche Art und Weise. Ich bin eher der Improvisationstyp, nach dem Motto: „Lass es uns versuchen und schauen, ob’s funktioniert.“ Agnès dagegen denkt die ganze Sequenz zu Ende. Das hat die Dynamik unserer Zusammenarbeit bestärkt.

AV: Zwischen uns liegen einige Generationen, aber tatsächlich haben wir überhaupt nicht daran gedacht, obwohl du die Treppen schneller erklimmen kannst als ich. Wir haben füreinander Modell gestanden. So hat es sich für mich angefühlt, denn beim Filmen, wie du arbeitest, wie du die Gerüste hochkletterst, bekommen wir auch ein Bild von dir und deiner Arbeit. Und du warst auch an mir interessiert, an meinen Augen, die nachlassen.

JR: Richtig, wir haben versucht zu zeigen, was mit deinen Augen passiert. Ich wollte für dich sehen, besser als du, die du verschwommen siehst ... vor allem in der Ferne. Ich habe deine Augen ganz nah fotografiert und sie aus der Ferne gezeigt. Und deine Zehen auch!

Bildschirmfoto 2018 05 31 um 11.00.52AV: Oh ja, meine Zehen. Ich habe mich sehr über deine Ideen amüsiert: Wie du mich permanent aufgezogen hast, aber auch die Art, in der du Bilder unserer Freundschaft erschaffen hast.

JR: Ich möchte eine Sache nicht unerwähnt lassen, die mir wichtig erscheint: Jeder, den wir auf unserer Reise getroffen haben, hat mich etwas gelehrt. Und umgekehrt.

AV: Als wir dem Automechaniker von den Ziegen ohne Hörnern erzählt haben, meinte er: „Das ist erstaunlich. Das wusste ich nicht. Davon werde ich anderen erzählen.“

f varda7JR: Von einer Person zur anderen, von einer Idee zur nächsten. Tatsächlich ist dieser Film eine Collage.


OP: Der ganze Film ist eine Collage. Mit JR, der die gigantischen Fotos an die Wände bringt und Agnès, die die filmische Collage mit Reimen und visuellen Rätseln umsetzt.

AV: Mir gefällt die Vorstellung, den Schnitt als eine Art Collage zu begreifen, die mit Worten und Bildern spielt, die einen gefangen nehmen, so dass wir nicht sagen müssen: „1. Kapitel, 2. Kapitel.“ Manchmal stelle ich mir die Montage als eine Reihe von Worten vor, die sich reimen: Visages, villages, collages, partage... (Gesichter, Dörfer, Collagen, Teilung).


Bildschirmfoto 2018 05 31 um 11.01.54OP: Und rivage (Ufer). Erzählen Sie uns von diesem Bunker am Strand.

JR: Ich bin oft in der Normandie, um am Strand Strand Motorrad zu fahren. Dort habe ich eine Stelle entdeckt, an der ein deutsches Blockhaus, ein Bunker aus dem Krieg, von der Klippe gefallen ist und jetzt aus der Mitte des Strandes emporragt. Ich habe es gegenüber Agnès erwähnt, aber sie schien nicht sonderlich interessiert. Einen Tages sagte ich ihr den Namen des Dorfes und es machte Klick. Sie rief: „Warte, ich kenne Saint-Aubin-sur-Mer, ich war dort in den 1950ern mit Guy Bourdin.“ Ich fuhr mit ihr dorthin und sie zeigte mir Guy Bourdins Haus in der Nähe. Sie zeigte mir auch die Fotos, die sie damals von ihm gemacht hatte. Wir gingen gemeinsam den Strand entlang und sie sagte: „Warum platzieren wir sein Foto nicht hier?“ Das Anbringen des Fotos war sehr strapaziös, denn wir mussten uns beeilen. Der Bunker ist riesig und die Flut kam schnell näher.

AV: Ich hatte das Foto des sitzenden Guy Bourdins gemacht, aber es war deine Idee, ihn in gekippter Stellung anzubringen und so den Kriegsbunker in eine Wiege für einen jungen Mann zu verwandeln. Ich war sehr bewegt davon, wie die Bedeutung des Fotos sich veränderte, zu was es für kurze Zeit wurde. Dann pssshhht – die Flut kam und spülte alles fort.


OP: Dieses Foto an diesem besonderen Ort ist für mich die perfekte Illustration Ihres Projekts: Wie es entstanden ist, wie es sich entwickelt hat und wie es verschwunden ist.

f varda10JR: Das ist es, was der Film erzählt, gemeinsam mit unserer Freundschaft, die während dieser Erfahrungen gewachsen ist. Das, was mit deinen Augen passiert, hat einen Eindruck bei mir hinterlassen. Es hat mich aufgewühlt und wurde auch das Thema des Films.

AV: So weit würde ich nicht gehen, aber es stimmt, dass „Augen und der Blick“ wichtig für unsere Arbeit sind, und in unserem Film. Du siehst klar, was meinen verschwommenen Augen hilft und – paradoxer Weise – sind deine Augen immer hinter dunklen Gläsern versteckt. Wir überraschen uns gegenseitig.


OP: Das Ende des Films hat mich überrascht 

AV: Das ist eine Überraschung, die wir erlebt haben und ich möchte sie nicht kommentieren.

JR: Als wir in den Zug stiegen, wusste ich nicht, wohin Agnès mich führen würde. Das war das Spiel. Dann haben wir aufgehört zu spielen und alles wurde real, ein Abenteuer. Und dann schauten wir auf den Genfer See...

AV: ...mit seinem gnädigen Wasser (das ist wahr), und das ist der Moment, an dem wir den Film verlassen. 


Fotos:
© Verleih

Info I:
INTERVIEW MIT AGNÈS VARDA UND JR, GEFÜHRT VON OLIVIER PÈRE AM 31. JANUAR 2017
Olivier Père ist Generaldirektor von Arte France Cinéma
Abdruck aus dem Presseheft

Info II:
Originaltitel      767Visages Villages (engl. Faces Places)
Produktionsland, -jahr     Frankreich, 2017
Länge      93 Minuten
FSK         ohne Altersbeschränkung
Kinostart .     31. Mai 2018
Regie & Drehbuch     Agnès Varda & JR
Schnitt         Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia
Kamera        Claire Duguet, Nicolas Guicheteau, Valentin Vignet,
Romain Le Bonniec, Raphael Minnesota, Roberto De Angelis, Julia Fabry
Musik           Matthieu Chedid aka -M