Flüchtlingspolitik europäischer Großmächte auf ARTE erklärt
Roman Herzig
Saarbrücken (Weltexpresso) - Bundeskanzlerin Merkel braucht beim EU-Asyl-Treffen dringend eine gemeinsame Lösung, um einen Ausweg aus dem Machtkampf mit ihrem Innenminister Horst Seehofer zu finden. Angesichts teils auseinanderstrebender Interessen der Teilnehmerländer dürfte das schwer werden. ARTE Info erklärt die unterschiedlichen Positionen und Konfliktpunkte.
Italien: Salvinis Zynismus
Erst verweigerte Italien dem Flüchtlingsschiff "Aquarius" mit über 600 Migranten an Bord die Einfahrt in seine Häfen, dann durfte das dänische Containerschiff "Alexander Maersk" nicht einlaufen.
Es sind Meldungen, die die Kompromisslosigkeit der neuen italienischen Regierung untermauern. Deren Flüchtlingspolitikäußert sich mittels der Stimme des neuen Innenministers Matteo Salvini von der rechten Lega. Dieser hatte im Wahlkampf mit fremdenfeindlichen Positionen erfolgreich die "Migrationskrise" bewirtschaftet. Den Mittelmeer-Hilfsorganisationen wirft er vor, Schleppern zu helfen.
"Wir können keinen Einzigen mehr aufnehmen", sagt Salvini. Ein bilaterales Rücknahmeabkommen nach der Vorstellung von Bundeskanzlerin Merkel schlägt er aus. Stattdessen möchte Italien das Dublin-System abschaffen. Frankreichs Abschiebungen von Asylsuchenden nach Italien haben in Rom für viel Verdruss gesorgt. Nicht zuletzt, weil Staatspräsident Macron im Zusammenhang mit den Flüchtlingsschiffen als moralische Instanz auftrat.
Im Rahmen des Mini-Flüchtlingsgipfels am 24. Juni hat Italien eine Vielzahl von Vorschlägen präsentiert. So sollen in Transit-Ländern "Schutzzentren" aufgebaut werden, afrikanische Staaten sollen Finanzhilfen erhalten. "Wir können nicht alle nach Italien und Spanien transportieren. Es braucht Schutzzentren in mehreren europäischen Ländern, um die Rechte jener zu schützen, die ankommen, und um Probleme der öffentlichen Ordnung und der Überbevölkerung zu vermeiden", erläuterte Giuseppe Conte, der neue italienische Premierminister.
Innenminister Salvini ist vor kurzem nach Libyen geflogen, um die Errichtung von Flüchtlings-Aufnahmezentren jenseits der südlichen Grenze des Landes zu diskutieren. Den Vorschlag wolle er auch beim EU-Gipfel in Brüssel in dieser Woche unterstützen, sagte der italienische Minister.
Im Süden grenzt Libyen an den Tschad und den Sudan, südwestlich des Landes liegt der Niger. Libyen ist das Hauptdurchgangsland für Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern, die über das Mittelmeer in die Europäische Union gelangen wollen. Libyen gilt als Hölle für Migranten. Ankommende in Italien berichten regelmäßig über menschenunwürdige, schreckliche Bedingungen.
Frankreich: Macrons Scheinheiligkeit
Staatspräsident Emmanuel Macron sieht sich als Verteidiger einer humanitären Politik. So warf er der neuen italienischen Regierung für das Abweisen der Flüchtlingsboote "Zynismus und Verantwortungslosigkeit" vor. Gleichzeitig bot Frankreich der "Aquarius" ebenfalls keine Anlegestelle. Das Schiff selbst musste schließlich im spanischen Valencia anlanden. Salvini bezeichnete Macrons Verhalten als "arrogant." Nach dem Zwist bestellte Rom den französischen Botschafter ein – eine außergewöhnliche Maßnahme unter EU-Partnern.
In Wirklichkeit praktiziert Frankreich eine rigide Abschiebepolitik. Zehntausende Migranten sollen über die Grenze nach Italien abgewiesen worden sein, darunter sollen sich Minderjährige, Schwangere und Alte befunden haben. Macron nimmt für sich in Anspruch, die Abschiebungen im Rahmen des Dublin-Abkommens vollzogen zu haben. Die Kritik Italiens konterte er mit dem Hinweis, dass Frankreich im laufenden Jahr am zweitmeisten Asylanträge angenommen habe.
Doch Frankreichs strenge Asylpolitik zeigt sich nicht nur in den Abschiebungen, sondern auch den direkten Abweisungen an der Grenze. Die französische NGO Cimade hat Zahlen der Grenzpolizei veröffentlicht. Diese zeigen, dass die Zahl der Abweisungen an den französischen Grenzen seit 2015, als Grenzkontrollen wieder eingeführt wurden, sprunghaft gestiegen ist (von 15.849 im Jahr 2015 mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf 85.408 im Jahr 2017).
Die große Mehrheit dieser Entscheide betrifft die französisch-italienische Grenze. Aber auch in den Pyrenäen an der Grenze zu Spanien ist dieselbe Entwicklung zu verzeichnen.
Ebenso wie Spanien wird Frankreich beim EU-Gipfel geschlossene Flüchtlingszentren auf europäischem Boden fordern. Diese Zentren müssten mit den Regeln des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR übereinstimmen, sagte Macron.
Deutschland: Merkels Verzweiflung
Bundeskanzlerin Merkel will die Eskalation der deutschen Regierungskrise verhindern. Sie versucht mit den anderen europäischen Staaten eine gemeinsame Grenzpolitik zu entwickeln. "Wir sind uns alle einig, die illegale Migration zu reduzieren, um unsere Grenzen zu schützen", sagte Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Mini-Gipfels in Brüssel. Womöglich ist dies der einzige gemeinsame Nenner.
Ihr Anliegen ist, die Sekundärmigration besser zu kontrollieren. Sie will verhindern, dass Migranten gleichzeitig in mehreren EU-Ländern Asyl beantragen. Ihr Lösungsansatz: Bilaterale Rückführungsabkommen zwischen EU-Ländern.
Für die Bundeskanzlerin steht nicht weniger als ihre eigene Regierung auf dem Spiel. Der Regierungspartner CSU will in anderen Ländern registrierte Flüchtlinge bereits an der deutschen Grenze abweisen lassen. CSU-Chef und Bundesinnenminister Horst Seehofer hat das in seinem "Masterplan Migration" festgelegt.
Falls es beim EU-Gipfel keine europäische Einigung gibt, droht Seehofer mit einem nationalen Alleingang. Merkel könnte daraufhin mit ihrer Richtlinienkompetenz reagieren und Seehofer aus der Regierung verbannen. Der Innenminister weiß die österreichische Regierung an seiner Seite.
Österreich: Kurz' Idee der Externalisierung
Kanzler Sebastian Kurz will einen wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen erreichen, sieht aber kaum Chancen für eine europäische Lösung und ist bereit für nationale Alleingänge. Österreich kann sich außerdem die Einrichtung von Asylzentren außerhalb Europas sowie den Einsatz von Soldaten an der EU-Außengrenze vorstellen. Am 1. Juli übernimmt Österreich die EU-Ratspräsidentschaft. Es ist wahrscheinlich, dass das Land intensiv für die Idee werben wird, die Asylprozedur außerhalb der europäischen Grenzen abzuwickeln.
An der Grenze zu Slowenien probte Österreich unterdessen den Ernstfall. Hunderte Polizisten und Soldaten simulierten den Ansturm von tausenden Flüchtlingen, obwohl die Grenze in Spielfeld längst geschlossen und die Zahl der Ankommenden inzwischen stark gesunken ist. Im ersten Jahresdrittel 2018 wurden nach Angaben des Innenministeriums nur etwa 5.000 Asylanträge gestellt.
Als Grund, das Grenz-Szenario trotzdem zu simulieren, nannte Österreich den Streit der deutschen Bundesregierung über die Zurückweisung bestimmter Flüchtlinge an der Grenze.
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