Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 19. Juli 2018, Teil 15
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die vor Lebenslust überbordenden Bilder dieses Films bleiben einem lange im Gedächtnis wie auch die Schwermut, die die Figuren durchdringt, Menschen und Szenen, wie man sie seit den Tagen Fellinis nicht auf der Leinwand sah – und gerade gegenüber dem US-Kino, das unsere Filmszene überschwemmt, einen Kontrapunkt setzt, wohltuend rätselhaft, ja geheimnisvoll und sinnsuchend: das Leben ein Traum.
Natürlich ist die Anspielung auf Calderón, der übrigens typisch Barock mit vollem Namen: Pedro Calderón de la Barca y Barreda González de Henao Ruiz de Blasco y Riaño hieß, natürlich ist die Anspielung also gewollt. Calderón schrieb auch ein anderes Stück, das den Begriff FEGEFEUER im Titel trägt und zwischen Traum und Fegefeuer bewegt sich auch Alejandro Jodorewskys autobiographischer Mittelteil der geplanten Trilogie. Der Mann wird nächstes Jahr 90 Jahre! Schon interessant mehr zu wissen über ihn, der vor Jahren ein sogenanntes Comeback in Cannes feierte, obwohl er für Cineasten nie weg war und durch seine Comics sowieso immer am Ball blieb.
Ja, das künstlerische Multitalent lebt in Paris, ist aber in Chile geboren und die Filme sind original auf Spanisch gedreht, was so wichtig ist, weil das blumenreiche und gleichzeitig so abstrakte Spanisch den oft irrealen, ja surrealen Hintergrund verstärkt. Übrigens kommen die Eltern des Filmemachers, Schauspielers, Komponisten, Dramatikers, Schriftstellers und Zeichners, auf jeden Fall Anhänger des Surrealismus etc. aus dem Judentum der Ukraine und wir phantasieren die Familie so gerne nach Lemberg, einfach, weil von dort aus dem alten k.u.k. Österreich-Ungarn so viele Sinnsucher und Welterklärer gekommen sind.
An diesem Mittelteil der autobiographischen Filmtrilogie sind wie zuvor die Söhne als jüngere Version des heute alten Vaters beteiligt, von denen im ersten Teil LA DANZA DE LA REALIDAD (2013) zwei mitspielten, dieses Mal mit dem Hauptdarsteller des jungen Alejandro (Adan Jodorowsky) ein dritter Sohn. Aber auch Brontis ist wieder dabei und spielt im Film den Vater des Alejandro, absoluter Gegenpol zum Sohn und der Antreiber für ein ordentliches züchtiges Leben – was schief geht. Die Mutter (Pamela Flores) spielt eine besondere Rolle, was sich schon dadurch ausdrückt, daß sie nicht spricht, sondern singt. Das gibt der Familie eine weitere surreale Komponente und dem Film auch, denn das Singen wiederholt sich immer wieder, wie ein roter Faden durch das Geschehen.
Alejandro fühlt sich zur Dichtkunst hingezogen und wenn immer wieder - dann schon wie ein Ohrwurm - VALSE TRISTE von Jean Sibelius die Handlung begleitet, wissen wir, daß es traurig und schön zugeht in diesem Film, den man irgendwie gar nicht inhaltlich wiedergeben mag, weil nicht der Ablauf das Entscheidende ist, sondern wie Alejandro gegenüber den Anforderungen der Wirklichkeit den Kopf aus der Schlinge zieht und wie er den Kopf verliert, wenn er sich auf die Zwischentöne, auf die Phantasten, auf die Jahrmarktsleute und das fahrende Volk, die Dichter, das älteste Gewerbe der Welt, das horizontale einläßt.
Es geht also bunt zu in dieser Geschichte vom Mannwerden, wie überhaupt Männer diesen Film dominieren und die Frauen ihnen gegenüber, hier bezogen auf Alejandro, immer nur eine Funktion haben. Das ist wichtig herauszustellen, ja, Frauen kommen vor, die lasziven, die betörenden, die Mannweiber, auch Liliputanerinnen sind dabei und vor allem Mütter, aber sie alle sind in der Handlung nur Beigaben zum jungen Alejandro, dem wir schon als Knaben (Jeremias Herskovits) auf seinem Lebensweg begegnen.
Schon als Kind ist er etwas Besonderes und hat seinen eigenen Willen. Wir sind in Santiago de Chile. Es sind die 40er und 50er Jahre. Zwanzig ist er geworden, der Sohn des Hauses, der immer noch Alejandrito genannt wird und von der Familie aus Medizin studieren soll, aber Manns genug ist, gegen den Willen der Familie, wobei der Vater der Machtfaktor ist, ein Dichter werden zu wollen. Ein Cousin, ist es Riccardo?, stellt sich auf seine Seite und bringt ihn bei zwei Schwestern unter, die Künstlerinnen sind und ihn in den inneren Zirkel der städtischen Avantgarde einführen. Vor allem im Café Iris geht es hoch her, wo er den bedeutendsten Dichter der Zeit kennenlernt und Stella die zärtlich und gewalttätig ihn die Liebe und den Haß lehrt. Daß Alejandro auf das Puppenspiel kam und die Marionetten selber herstellt, wird wichtig, als Stella ihn fallen läßt und er ins Bodenlose fällt, aber mit den Puppen nun Gesellschaft hat, die sich zudem verkaufen lassen, was neue Freunde bedeutet.
Halt. Wichtig sind die Brechungen im Film, die das Poetische und Surreale noch verstärken. Denn es gibt den so komischen wie weisen Alten im Film über den jungen Alejandro, den der Regisseur Alejandro Jodorowsky selber spielt und der die Funktion eines griechischen Chores übernimmt: zu kommentieren und auf das Wesentliche zu verweisen, wohin es gehen sollte. Und wichtig ist auch, daß die Mutter eher zart und zäh mit ihrem Operngesang dargestellt ist und Stella dagegen eine handfeste Biertrinkerin ist, aber beide von der selben Darstellerin Pamela Flores verkörpert sind. Was bedeutet das? In den assoziativen Räumen, zu denen dieser Film ja führt und verführt, kommt einem das wie ein Inzest vor, aber man ist gleichzeitig vorsichtig, nicht zu viel in einer Geschichte, die bunt und schräg daherkommt, hineinzugeheimnissen.
Auf jeden Fall bestand das Leben von Alejandro in seiner Künstler-WG aus derart vielen einzelnen Geschichten, die wir mitbekommen und die so bunt und so phantastisch sind, daß sie sich dem Nacherzählen verschließen. Das bezieht sich auch auf die Erlebnisse mit der Liliputanerin, die an Drastik nichts zu wünschen übrig lassen und in den Straßenbildern – hier ein Umzug mit Totengerippen, die man eher in Mexiko vermutet. Längst hat er die eigene Werkstatt und als er wieder mal ein Fest feiert, lernt er den Dichter kennen, mit dem er dann endlich den Austausch hat und die Aktionen unternimmt, die er sich vorgestellt. Aber die Zeiten, die sind dagegen und Alejandro macht sich auf den Weg...
Foto:
mubi.com
Info
DER JUNGE ALEJANDRO JODOROWSKY: Adan Jodorowsky
SARA FELICIDAD / STELLA DÍAZ VARÍN: Pamela Flores
JAIME: Brontis Jodorowsky
ENRIQUE LIHN: Leandro Taub
ALEJANDRO JODOROWSKY: Alejandro Jodorowsky
ALEJANDRO JODOROWSKY ALS JUNGE: Jeremias Herskovits
PEQUEÑITA: Julia Avedaño
GENERAL CARLOS IBÁÑEZ DEL CAMPO: Bastián Bodenhöfer
MARÍA LEFEVRE: Carolyn Carson
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