a bras.filmstarts.deSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Juli 2018, Teil 8: JULIANA ROJAS UND MARCO DUTRA ÜBER IHREN FILM

Bernard Payen

Brasilien (Weltexpresso) - Wie in ihren vorhergehenden Filmen mischen Sie in „Gute Manieren“ Elemente des Fantastischen mit einer deutlichen Sozialkritik. Wie begann die Arbeit zu diesem Film und wie steht dieser in Bezug zu ihren früheren Filmen?

Das Element des Fantastischen wird in unserem ersten gemeinsamen Spielfilm „Hard Labor“ immer mehr Teil der Erzählung, je näher wir deren Höhepunkt kommen. In „Gute Manieren“ haben wir uns dazu entschieden, von Beginn an eine fantastische Welt zu erschaffen und bedienten uns dafür der narrativen Struktur eines Märchens. Die Erzählung spielt in einer leicht traumhaften Version von São Paulo und nimmt einige Wendungen, die nur in einer magischen Welt möglich sind. Aber die materialistischen Themen der sozialen Klassenunterschiede und Rassendiskriminierung sind als Probleme noch immer sehr präsent.


Lassen Sie uns über ihre Frauenfiguren sprechen. Ana erscheint als eine junge Frau aus der gehobenen Mittelschicht, die versucht, sich von ihrem Umfeld zu emanzipieren. Wie haben Sie diese Figur und die Themen um sie entwickelt?

Ana verbindet uns mit dem ländlichen Brasilien, wo sich die Mythen um Werwölfe einst entwickelt haben. In der ersten Version unseres Drehbuchs war sie Teil einer romantischeren, gothic-haften Welt. Im Zuge unserer Recherche sind wir dann aber auf eine junge Generation von reichen Landwirten aus dem Bundesstaat Goiás gestoßen, der tiefe Verbindungen mit der Kolonialzeit in Brasilien hat und in dem Volksmusik extrem populär ist. So entstand für uns ein neuer Entwurf von Ana als eine junge Frau, die in einer ländlichen Blase aus Privilegien und Prahlerei aufgewachsen ist und das Leben darin gewohnt war – und nun plötzlich schwanger wird, was von ihrer Umgebung nicht gerade willkommen geheißen wird. Sie wird verstoßen und zieht nach São Paulo in einen Wohngegend für Neureiche, die einzig aus Hochhäusern und Bürokomplexen besteht. Für sie eröffnet sich damit zugleich die Chance, mit einer anderen Seite ihres Ichs in Beziehung zu treten.


Clara ist die eigentliche Protagonistin des Films, sie führt uns tief in die Geschichte hinein. Wieso haben Sie für sie die Rolle des Kindermädchens gewählt?

Kindermädchen sind nichts Besonderes in Familien der brasilianischen Mittel- und Oberschicht. Sie nehmen eine wichtige Funktion in der Erziehung der Kinder ein und werden als zweite Mütter angesehen. Über Claras Figur wollten wir uns mit den Fragen von Mutterschaft und der Beziehung zwischen Arbeit und sozialer Klasse auseinandersetzen. Clara hat etwas Geheimnisvolles – sie ist in ihrer Vergangenheit viel hin und her gezogen, hat in vielen kleinen Städten gelebt, ehe sie sich in einem Vorort von São Paulo niedergelassen hat. Weil sie ihre kranke Großmutter gepflegt hat, weiß sie viel über Medizin und Spiritualität. Sie ist eine starke Frau, die sich Ana entgegenstellt und sich weigert, von ihr ausgenutzt zu werden. Als Ana beginnt, sich als Arbeitgeberin selbst zu zerlegen, erkennt Clara ihre Zerbrechlichkeit und die beiden stellen fest, dass sie mehr gemeinsam haben als zunächst angenommen.


In der Beziehung zwischen den beiden geht es um Liebe, Sex und schließlich um eine geteilte Mutterschaft. Clara wird die zweite Mutter von Joel und zieht ihn auf, als Ana das nicht länger kann. Der Film zerfällt damit klar in zwei Akte.

Die Struktur kam so zustande: Wir brauchten einen Moment im Zentrum der Geschichte, der es uns erlaubte, ganz verschiedene Aspekte von Mutterschaft zu verhandeln. Über Ana können wir über biologische Mutterschaft nachdenken, wie es körperlich für eine Frau ist, ein Kind zu bekommen, und wie aggressiv eine Schwangerschaft mitunter auf einen Körper wirkt. In der zweiten Hälfte folgen wir Clara, und nun geht es darum, wie schwierig die Erziehung eines Kindes sein kann. Eine wichtige Inspiration war für uns Brechts Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ (1944/45), das wiederum eine Bearbeitung der Legende des Königs Salomon ist. Unser Film stellt auch die Frage: Wer ist die wirkliche Mutter des Kindes – die biologische oder diejenige, die das Kind groß zieht? Liebe und familiäre Bindung kommen von Arbeit und Fürsorge und sind nicht immer das Ergebnis von Blutsverwandtschaft. Clara nimmt Joel zunächst aus Liebe zu Ana zu sich, aber auch, weil sie durch seine monströse Erscheinung hindurch blicken kann. Aber eine Mutter zu werden ist auch ein Akt der Ausbildung. Während Clara Joel groß zieht und ihm gute Manieren beibringt, muss sie auch lernen, seine wahre Natur zu akzeptieren.


Joel wirkt in der Gestalt des Wolfs nicht nur als Monster, er erscheint auch liebenswert, beinahe niedlich.

Joels Ambivalenz spricht uns alle an. Es geht um die menschlichen Konflikte zwischen Aggressivität und Sanftheit, Instinkt und Zivilisation, Fleisch und Seele. Liebe selbst wird durch diese Konflikte charakterisiert, es geht um Anziehung, aber auch um Inbesitznahme. Da wir Joel durch die Augen einer Person sehen, die ihn liebt, ist es am Ende des Films ganz natürlich, dass er auch liebenswürdig und auf seine Art auch wunderschön erscheint. Wir erleben Joels Erwachsenwerden als einen Prozess der größeren Selbstwahrnehmung, die vom Geschmack des ersten Bluts und der Entdeckung von Spuren seiner biologischen Mutter ausgelöst werden. Auch die Zahl „7“ steht damit in Verbindung: Sowohl in der Werwolf-Legende wie auch in der psychologischen Theorie heißt es, dass ein Kind ab einem Alter von 7 Jahren begreift, dass es sich als Person von den Eltern unterscheidet. Wir haben viel Zeit mit den Kinderdarsteller_innen verbracht, vor allem mit Miguel Lobo, und diese Zeit war wichtig, um einen bestimmten Blick auf kindliche Verhaltens- weisen zu demystifizieren. Die Kinder bei den Proben zu beobachten, hat uns zu vielen Entdeckungen geführt.

Die Gestaltung der Wolf-Version von Joel war ein langer Prozess. Wir haben für die Entwürfe des Wolf-Babys und des späteren -Kindes mit dem Künstler Mathieu Vavril zusammengearbeitet und erst nach vielen Versionen die richtige Balance zwischen Kind und Tier gefunden. Atelier 69 hat aus diesen Ent- würfen dann die elektronisch gesteuerten Modelle geschaffen. Mikris Image hat dann das digitale Model der Kreatur auf der Basis von Miguels Maßen, seiner Augenfarbe und Größe, den Formen seines Kopfes und seiner Körperstruktur geschaffen. Dabei hatten die emotionalen Teile der Geschichte für das Team von Mikros Priorität – es ging darum, Miguels Schauspiel in der CGI-Animation zu bewahren und der monströsen Figur somit Leben und Wahrhaftigkeit einzuhauchen.


Sie haben für die Geschichte die Form eines gruseligen Märchens gewählt. Welche filmischen Referenzen hatten Sie bzgl. des Genres, der Stimmung und der Inszenierung im Sinn?

Genrefilmen können uns ein tiefes Verständnis über die Ängste in der Welt vermitteln, in der wir leben. Wir sind beide große Fans der frühen Disney-Filme und deren Vermischung verschiedener Genres: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937), „Dumbo“ (1941) und „Bambi“ (1942) nutzen Musik, Elemente des Horrors und der Fantasie um über komplexe Themen wie Neid, Einsamkeit und Heranwachsen zu erzählen. Wir wollten diesem Beispiel folgen, es sollte aber um unsere eigenen, zeitgenössische Themen gehen: sexuelles Begehren; die Frage, was eine Familie ausmacht; die Veränderungen eines Körpers. Märchen sind eine breite und direkte, nicht unbedingt moralisierende Form, in der aus dem alltäglichen Leben Fantasie und neue Bedeutungen entwickelt werden. „Gute Manieren“ ist unser Versuch eines modernen Märchens. Inspiriert haben uns dabei auch die Filme von Jacques Tourneur, vor allem „Katzenmenschen“ (1942) und „The Leopard Man“ (1943), in denen der Regisseur meisterhaft Atmosphäre und einen feinen Raum jen- seits der Leinwand erschafft.

In der ersten Hälfte unseres Films wird Anas Schwangerschaft mit Geheimnissen versehen, deren Enthüllung nach und nach ihr merkwürdiges Verhalten erklären. Im Moment der Geburt erkennen wir das Baby als das, was es ist. In der zweiten Hälfte des Films ist die Existenz des Werwolfs kein Geheimnis mehr. Trotzdem zeigen wir auch hier erst nach und nach, was die Verwandlung mit Joel macht: Wir hören das Geheul, sehen dann Details seines Körpers wie das Fell oder die Nägel. Erst ganz am Ende des Films sehen wir Joel in vollständiger Verwandlung an der Seite von Clara – zu einem Zeitpunkt, an dem wir seine Gefühle als Werwolf auch nachempfinden können. Dieser offene und zugleich direkte Ansatz, mit mythischen Figuren und ihren Gefühlen umzugehen, ist in den meisten Märchen zentral. Für uns war das die richtige Perspektive auf Joel und seinen Werwolf-Körper.


Sie zeigen São Paulo als hochgradig stilisierten Ort. Wie verlief die Arbeit mit dem Kameramann Rui Poças?

Wir haben zwei unterschiedliche Räume entworfen: Anas Apartment, dem man ansieht, dass es die Wohnung einer Neureichen ist, und die Welt der Peripherie, in der Clara lebt. Wir haben diese beiden Sphären wie das Schloss und die umgebenden Wälder aus alten Märchen betrachtet. Hinzu kam der mythische Aspekt der Werwolf-Erzählung. Jedes dieser Konzepte hatte ein bestimmtes Set an Regeln bezüglich Farben, Licht und Design. Unser Produktionsdesigner Fernando Zuccolotto arbeitete mit dem Künstler Eduardo Schaal für die Designs der Bühnenbilder zusammen, wobei sie alte Techniken verwendeten und sich von Filmen wie Powell/Pressburgers „Die schwarze Narzisse“ (1947) und Hitchcocks „Marnie“ (1964) inspirieren ließen, ebenso wie von den Werken der brillanten Disney-Produktionsdesignerin Mary Blair.

Der Musikscore und die verwendeten Songs evozieren den Eindruck von etwas Fantastischem – das gleichwohl mit Schmerzen verbunden ist.
Wir haben zusammen mit den Komponisten Guilherme und Gustavo Garbato an einer bestimmten Entwicklung gearbeitet: Die Musik beginnt subtil und wird im Verlauf des Films, im tieferen EIntauchen in die Genre-Erzählung, komplexer und reicher. Die Harfe ist dabei unser zentrales Instrument, ihr verträumter Klang ist den ganzen Film über präsent. Andere Instrumente wie die Flöte und die Trommel erinnern uns an eine frühere, beinah mittelalterliche Welt. Der Chor hat die Funktion eines Erzählers, der zu Clara während ihrer schwersten emotionalen Prüfungen spricht. Die Songs, die sowohl von Brecht als auch Disney inspiriert wurden, nehmen unterschiedliche Formen an: religiöse Lobgesänge, vom Chor stammende Kommentare, Wiegenlieder. Das „Hunger“-Wiegenlied funktioniert als zentrales Thema und verbindet alle Teile der Geschichte miteinan- der: Es gehört zunächst zur Musiktruhe aus Anas Kindheit und bekommt eine neue Bedeutung, wenn Clara es am Ende des Films Joel vorsingt.


Auch wenn Sie eine fantastische Form wählen, bleiben die zeitgenössischen Themen klar erkennbar. Würden Sie sagen, Sie haben einen politischen Film gemacht?

Ja. Das Konzept der Differenz ist zentral im Werwolf-Mythos: Mensch gegen Bestie, Zivilisation gegen Instinkt. Wir erweitern dieses Konzept auf alle Aspekte unserer Geschichte: Zentrum und Peripherie, weiß und schwarz, reich und arm. Die Spaltung des Films reflektiert das ebenso: Horror- und Kinder- film werden miteinander verwoben. Die Figuren werden durch alle möglichen Grenzen voreinander getrennt: soziale Schicht, Hautfarbe, Herkunft, Glaube, Alter, Zeit. Es geht für sie aber auch um Einsamkeit und verborgenes Begehren. In gewisser Weise ist die homosexuelle Liebesgeschichte zwischen diesen derart unterschiedlichen Figuren und die Gründung einer ungewöhnlichen Familie die wildeste Fantasie des ganzen Films: die Vorstellung, dass alle Schranken, die die Gesellschaft errichtet hat, in Frage gestellt und letztlich niedergerissen wer- den können.


Musste der Film also offen enden?

In einem unserer ersten Drehbuchentwürfe endete die Geschichte tragisch. Unsere langjährigen Partnerinnen und Produzentinnen Sara Silveira und Maria Ionescu von Dezenove Som e Imagens fanden, dass wir damit in eine falsche Richtung gehen würden, und wir erkannten, dass sie Recht hatten. Wir haben also eine neue Schlußszene gedreht, mit der auf gewisse Weise die Nabelschnur des Kindes erst richtig durchtrennt wird. Es geht in dieser letzten Szene aber auch darum, Widerstand zu leisten und gegen das Regime der „guten Manieren“ aufzubegehren. Gegen ein Regime, das eigentlich immer in Frage gestellt werden sollte, wenn es um die Suche nach erträumten anderen Welten geht.


Foto:
uliana Rojas und Marco Dutra
© filmstarts.de


Info:

BIOGRAFIEN
Juliana Rojas (* 1981) und Marco Dutra (*1980) studierten beide Film an der Universität von São Paulo, wo sie sich auch kennenlernten und ihre kreative Partnerschaft begann. Sie haben eine Reihe von preisgekrönten Kurzfilme gedreht, u.a. „O Lenço Branco“ (2004) und „Um Ramo“ (2007). Ihr erster gemeinsamer Spielfilm „Trabalhar Cansa“ („Hard Labor“), wurde 2011 in Cannes in der Sektion Un Certain Regard urauf- geführt und im selben Jahr in Sitges mit dem Citizen Kane Award ausgezeichnet. Juliana hat bei dem Horror-Musical „Sinfonia da Necrópole“ Regie geführt, das 2014 beim Mar Del Plata Film Festival mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeich- net wurde. Parallel arbeitet sie als Drehbuchautorin für meh- rere TV-Serien wie die zweite Staffel der Netflix-Produktion „3%“ sowie als Cutterin für andere Spielfilmprojekte. Marco drehte den Horrorfilm „Quando Eu Era Vivo“ („When I Was Alive“; 2014), der unter anderem auf den Filmfestivals von Rom und Peking gezeigt wurde, sowie den Thriller „Era el Cielo“ („The Silence of the Sky“, 2016), der unter anderem in den Wettbewerben der Filmfestivals von Tokyo und Havana lief, ehe er weltweit auf Netflix gezeigt wurde. Ihr zweiter gemeinsamer Spielfilm GUTE MANIEREN („As Boas Manei- ras“) wurde 2017 bei den Filmfestspielen von Locarno urauf- geführt und mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.

Filmographie (Auswahl)
2004 „O Lençol Branco“ (KF, R: Juliana Rojas & Marco Dutra)
2007 „Um Ramo“ (KF, R: Juliana Rojas & Marco Dutra)
2011 „Trabalhar Cansa“ („Hard Labor“; R: Juliana Rojas & Marco Dutra)
2012 „O Duplo“ (KF; R: Juliana Rojas)
2014 „Quando Eu Era Vivo“ (R: Marco Dutra) „Sinfonia da Necrópol“e (R: Juliana Rojas)
2016 „Era el Cielo“ („The Silence of the Sky“; R: Marco Dutra)
2017 „Gute Manieren“ (As BoasManeiras“; R: Juliana Rojas & Marco Dutra)

Regie & Buch. . . . . . Juliana Rojas & Marco Dutra
Kamera . . . . . . . . . . . Rui Poças, AIP
Schnitt. . . . . . . . . . . . Caetano Gotardo

Besetzung:
Clara. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Isabél Zuaa
Ana. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marjorie Estiano
Joel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Miguel Lobo
Dona Amélia . . . . . . . . . . . . . . . . .Cida Moreira

Abdruck aus dem Presseheft