Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – As Boas Manieras heißt der brasilianische Originaltitel, was eigentlich nur Manieren bedeutet, aber so schillernd ist, wie im Deutschen auch, wo sich die (guten) Sitten hinter den (schlechten) Umgangsformen verstecken oder umgekehrt, es allgemein also ums Benehmen geht. Aber was macht man, was ist ein gutes Benehmen, wenn man ein Werwolf ist?
Eine wichtige Frage, auf die ich nie gekommen wäre, hätte ich nicht diesen Film gesehen, der so Horror wie Mensch- und Tierstudie ist, daneben noch eine soziale Studie über die Auswirkungen des Kapitalismus auf das Leben der in ihm existierenden Menschen - denn der eigentliche Werwolf bleibt der ausbeutende Kapitalist - , aber auch ein hinreißender filmischer Essay über Mutter und Kind, eben, ob man biologisch Mutter sein muß, natürlich nicht!, um die beste Mutter der Welt zu werden, vor allem aber ein Film über Mischwesen, darüberhinaus uns auf der Leinwand eine Phantasie darstellt, einen wilden gefährlichen Traum, der als ‚ein großartiges modernes Märchen‘ bezeichnet wird. Mir hat er gefallen, dieser absurde Film, weil wir zum einen nachgerade genug Filme haben, die exakt das Leben nachstellen; zum anderen, weil wir wie selbstverständlich in diesen neumodischen computeranimierten Gestalten auf der Leinwand 'Menschen‘ als wirkliche Lebewesen ansehen sollen. Da lobe ich mir doch einen Film um einen Werwolf, der wenigstens Gefühle hat und sie zeigt und nicht nur welche erregt. Und wenn ich dies gerade schreibe, muß ich auf einmal an DIE SCHÖNE UND DAS BIEST denken, aber nur beim Schreiben, und während ich dies nun niederschreibe, kommt auch ROSEMARIES BABY in den Sinn - beim Zuschauen dagegen kommt man überhaupt nicht auf Vergleiche, weil man gebannt dem folgt, was sich da tuen wird, wenn ganz harmlos das Ganze anfängt.
Nämlich mit Clara Macedo, der Dunkelhäutigen mit dem raspelkurzen Haarschnitt und den schwierigen Lebensumständen. Eigentlich ist sie Krankenschwester, doch ohne Arbeit, wohl vom Leben geschlagen, denn sie wirkt introvertiert und voller Angst, sie kann die Miete nicht bezahlen und sucht eine Anstellung. Als sie die vielleicht bei Dona Ana in einem Luxusappartement mit Blick über São Paulo finden kann, staunt sie erst einmal über diese Frau, die ihr der Inbegriff all dessen ist, was ihr fehlt: sie ist schön, sie ist weiß, sie ist reich, sie ist schwanger. Deshalb sucht Ana ein Kindermädchen und fragt nun bei Clara genau nach, nach den Referenzen etc. Die kann diese nicht richtig bieten, dafür zeigt sie sich erfahren in den Dingen des Lebens, weshalb Dona Ana sie sofort einstellt.
Mit den Dingen des Lebens ist der Alltag gemeint, das Einkaufen, das Kochen, das Saubermachen, alles Dinge, mit denen sich Dona Ana nicht gerne herumschlägt. Die tanzt lieber und kauft Luxusartikel, am liebsten die, die ihren Körper schmücken. Wie ein verwöhntes Kind wirkt sie auf den Zuschauer, der von der Erzählung her erst einmal mit dem Blick von Clara auf das Ambiente schaut. Die Empathie des Films ist eindeutig auf ihrer Seite, das schon mal vorneweg. Man wird dies noch brauchen.
Sie spielen sich gut aufeinander ein, die beiden, und Dona Ana ist kaum die herrschsüchtige Herrin, die mit ihrer Dienerin Clara macht, was sie will. Und doch, bei allem partnerschaftlichen Verhalten, bleibt die Grundstruktur bestehen, selbst dann noch, als sich die beiden immer näher kommen und dann sogar ein Liebesverhältnis eingehen. Doch die Idylle, in der sich beide auf die Geburt vorbereiten und freuen, wird jäh durch Seltsames gestört: Ana hat somnambule Tendenzen. Sie schlafwandelt, sie träumt, sie ist des Nachts eine andere als am Tage. Clara, die Durchblickende, wie ihr Name schon sagt, folgt der nächtlichen Gestalt und muß mitansehen, wie die liebe Ana einem süßen Kätzchen die Kehle durchbeißt und sie auffrißt. Und dann muß sie das sogar mitfühlen, denn bei einem Kuß, verbeißt sich Ana in Claras Fleisch. Das ist schon harte Kost.
Aber es kommt noch härter. Wir wissen längst mehr als Clara und sehen die Szenen, wie es zu Anas Leibesfrucht gekommen ist. Abartig und eindeutig: ein Werwolf als Erzeuger. Die Szenen der Geburt sind dann so abgründig, daß man sich nur wundern kann, auf was die Leute alles kommen. Aber sie hat was, diese Geburt. Denn als der Bauch immer dicker wird, will das Baby mit allen Mitteln aus dem Mutterleib heraus. Man sieht es deutlich, wie es sich unter der Haut der Schwangeren Platz schaffen will, während die Schmerzen der Ana ins Unermeßlich steigen, was wir sofort verstehen, wenn jetzt aus dem Leib heraus ein Wesen die Bauchdecke von innen durchstößt, was einem selber sofort körperliche Schmerzen bereitet. Als Clara vom Notanruf beim Arzt ins Zimmer zurückkehrt, sieht sie Ana tot und das merkwürdige kleine Ding am Leben. Erste Entscheidung: weg damit, sie wickelt es ein, will es töten, erschießen, ertränken. Doch irgendwas an diesem Wesen, erkennt sie als Kind – und plötzlich ist ihre Entscheidung eindeutig: das Wesen, ein klitzekleiner Werwolf, soll leben.
Ein paar Jahre später erleben wir eine entspannte, ja glückliche Clara mit ihrem kleinen Joel (Miguel Lobo), so hätte ja auch Ana ihn nennen wollen. Clara hat lange Haare und ist schön geworden. Joel wirkt erst einmal normal auf einen, dann allerdings – der Film ist deshalb so gekonnt, weil er nicht mit dem Holzhammer daherkommt, sondern viele kleine Verweise das Geschehen durchsichtig und nachvollziehbar machen – sehen wir Zeichen, ach was, Tatsachen, die Schlimmes ahnen lassen: seinen Bartwuchs muß Clara morgens scheren, damit er in der Schule nicht auffällt und damit nichts passiert, muß er des Nachts in einem verschlossenen Raum an den Händen festgezurrt mit Metallgurten schlafen. Für die Werwolfignoranten: er lebt des Nachts und schläft am Tag. Das alles erträgt Joel, bis ihm die Frage nach seiner Herkunft kommt: Mutter und Vater. Das war‘s dann.
Was jetzt beginnt, ist eine gnadenlose Entmenschlichung, das Werwolfähnliche gewinnt, es fließt viel Blut, und ein echter Horrorreißer tut sich auf der Leinwand auf, aber es tritt auch eine resolute Clara in Erscheinung. Ihr ganzes Wesen verändert sich. Sie weiß, was sie will: sie will ihren Joel lebendig, aber nicht als Werwolf. Sie hofft, daß Liebe heilt...und wenn vom Märchen die Rede ist, beginnt es wohl jetzt. Und daß man den Film so fasziniert folgt, das hat sicher mit dem Blochschen Prinzip Hoffnung zu tun, wofür der Film einfach wunderbare Bilder findet.
Überhaupt die Bildsprache. Ohne die wäre der obige Inhalt uninteressant. Allein die Verwandlung des Jungen in einen Werwolf und auch die Rückverwandlungen sind optisch eindrucksvoll und überhaupt nicht mit dem raschen Verwandeln in Maschinen der Technikfilme von morgen vergleichbar. Hier gibt es noch den menschlichen Maßstab und das genaue Hinschauen. Was können Hände nicht alles sagen. Tatsächlich: hier alles.
Fotos:
drei aus dem Film sowie Ausschnitt aus dem Filmplakat © Verleih
Info:
Regie & Buch. . . . . . Juliana Rojas & Marco Dutra
Kamera . . . . . . . . . . . Rui Poças, AIP
Schnitt. . . . . . . . . . . . CaetanoGotardo
Besetzung:
Clara. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isabél Zuaa
Ana. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marjorie Estiano
Joel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Miguel Lobo
Dona Amélia . . . . . . . . . . . . . . . . .Cida Moreira
drei aus dem Film sowie Ausschnitt aus dem Filmplakat © Verleih
Info:
Regie & Buch. . . . . . Juliana Rojas & Marco Dutra
Kamera . . . . . . . . . . . Rui Poças, AIP
Schnitt. . . . . . . . . . . . CaetanoGotardo
Besetzung:
Clara. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isabél Zuaa
Ana. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marjorie Estiano
Joel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Miguel Lobo
Dona Amélia . . . . . . . . . . . . . . . . .Cida Moreira