f aliceEine Bilanz des 71. Filmfestivals in Locarno, der letzten Ausgabe des scheidenden Leiters Carlo Chatrian,  Teil 1/2 

Kirsten Liese

Locarno (Weltexpresso) - Alice evoziert Konflikte, wo sie geht und steht. Permanent verstößt die junge Frau gegen Regeln,  widersetzt sich Autoritäten, erzwingt ihren Willen. Wenn die Adoptivmutter das Smartphone einkassiert, macht sie Randale. Auch das letzte Wort eines Lehrers, der sie ohne ärztliches Attest nicht vom Unterricht entlassen will, missachtet die chronische Schulschwänzerin mit der feuerroten Mähne. Und so wie sie eigenmächtig ohne jeglichen ärztlichen Beistand mit Tabletten einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt,  schadet sich die eigensinnige, widersprüchliche Rebellin, die noch kurz zuvor im Disput mit der Mutter von Abtreibung nichts hören wollte, selbst.

Der Rumäne Radu Muntean mutet einem Einiges zu mit einer unleidlichen, ihr gesamtes Umfeld terrorisierenden Antiheldin.  Eltern, Lehrer, Schuldirektoren - alle sind machtlos gegen die fatalen Aktionen des Mädchens, niemand kann helfen.  Beängstigend real vor Augen führend, wie die Jugend verkommt und die Gesellschaft belastet, wenn ihr niemand Grenzen aufzeigt, bescherte Alice T. Locarno  einen seiner stärksten und radikalsten Beiträge in einem insgesamt außergewöhnlich starken Wettbewerb.  Mit einem Preis für  die ihren Part sehr glaubwürdig meisternde Andra Guţi brachte die Jury unter dem Vorsitz des chinesischen Regisseurs Jia Zhang-ke ihre Anerkennung darüber zum Ausdruck.

Starke Frauen und Mädchen dominierten schon ganze Festivaljahrgänge, sei es in Locarno, Berlin, Venedig oder anderswo. Vielleicht sah man auch zu viele Filme über sie, weshalb es Zeit wurde, den Blick auf weibliche Figuren mit schwierigeren Persönlichkeiten zu lenken, um nicht zu sagen, auf den Typ der Querulantin. Den repräsentierte in Locarno jedenfalls nicht nur die Rumänin Alice, sondern etwa auch die Schweizerin Lena in Thomas Imbachs Drama Glaubenberg. Die 16-Jährige ist verliebt in ihren älteren Bruder, wird eifersüchtig, wenn andere Frauen etwas von ihm wollen und klammert sich an ihn. Aber ihre Gefühle bleiben unerwidert, der sich von ihr bedrängt fühlende Bruder setzt sich in die Türkei ab. Aus einer solch starken Exposition hätte sich zweifellos ein packendes Drama über ein Thema entwickeln lassen, das einst schon den genialen Literaten Thomas Mann zu seiner Erzählung Wälsungenblut inspirierte. Schade nur, dass Imbach sich um eine Reflektion über die verbotene, inzestuöse Liebe und den notwendigen schmerzhaften Prozess des Loslassens herumdrückt. Eltern und Pädagogen, die Lena angesichts unübersehbarer Signale hätten zu Hilfe kommen können, versagen auf ganzer Linie, und die Protagonistin, zu der der Regisseur zusehends die Distanz verliert, driftet zunehmend in krankhaftere Obsessionen ab.  Das wirre, zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierende Finale bleibt folglich etwas unbefriedigend.

Mit der stummen jungen Türkin Sibel, die nur über Pfeiftöne kommunizieren kann und sich dieser Sprachstörung wegen gesellschaftlichen Konventionen nicht in gleicher Weise verpflichten muss wie ihre Schwester, präsentierte sich eine weitere Rebellin. Als Jägerin ist sie fest entschlossen, jenen vermeintlich gefährlichen Wolf im Wald zu töten, vor dem die Männer im Dorf Angst schüren. Wie die junge Frau über die Erkenntnis, dass es gar keinen Wolf gibt, und ihre Liebe zu einem anderen Außenseiter an Stärke gewinnt, um sich schließlich gegen den patriarchalischen Vater aufzulehnen und der wenig selbstbewussten Schwester zur Seite zu stehen, erzählen Cagla Zencirci und Guillaume Giovanetti, die Regisseure dieser auch mit deutschen Geldern finanzierten Koproduktion, bewegend, allerdings dramaturgisch auch recht absehbar.  Das Schönste an diesem hoch in der Gunst des Publikums stehenden allemal sehenswerten, wenngleich mit seinen schrillen Pfiffen  auch etwas nervtötenden Films sind die aparten, schönen Gesichtszüge der Hauptdarstellerin Damla Sönmez, die  sich einem fest einprägen.

Es wäre vermessen,  Diane, die Titelheldin in dem amerikanischen leisen Porträt von Kent Jones in die Riege solcher aufmüpfigen, eigensinnigen, widerspenstigen Figuren einreihen zu wollen, kümmert sie sich doch permanent besorgt und hilfsbereit um Andere.  So wie sie sich dabei mitunter aufdrängt, könnte man allerdings auch in ihr eine Nervensäge sehen. Sitzt sie nicht am Bett der  im Sterben liegenden Cousine oder widmet sich diversen älteren Tanten, zieht es sie besorgt zum Sohn, der mit Drogen sein Leben zu ruinieren droht. Und dem ist es gar nicht recht, wenn seine Mutter ständig bei ihm hereinplatzt, fühlt sich eher erdrückt von ihrer allzu großen Fürsorge.

Allein schon dank dieser zahlreichen spannenden Frauenporträts lässt sich eine rundum erfreuliche Gesamtbilanz dieser letzten Ausgabe des scheidenden Festivaldirektors Carlo Chatrian ziehen. Nicht jeder Jahrgang war gesegnet von derart viel Sehenswertem und Herausragendem. Mitunter, vor allem in der letzten 70. Ausgabe war man schon drauf und dran, dem gebürtigen Turiner einen guten Geschmack abzusprechen. Aber im entscheidenden Moment seines Abgangs ist es ihm  doch gelungen, positive Hoffnungen und Erwartungen an seine Zukunft als Festivalchef der Berlinale zu wecken. – Insbesondere im Hinblick auf den Wettbewerb, der in Dieter Kosslicks Ära mehr und mehr zum Sorgenkind wurde und sich nicht im Ansatz mit so anspruchsvollen, packenden Dramen empfahl, wie sie heuer in Locarno vor allem  das asiatische Kino beisteuerte.

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