N.N.
Paris (Weltexpresso) - Wie bereits in Ihrem Kurzfilm AVANT QUE DE TOUT PERDRE, behandeln Sie in Ihrem Langfilmdebüt ein soziales Drama – häusliche Gewalt – auf eine Weise, die für das Publikum große Spannung erzeugt.
NACH DEM URTEIL stellt Angst in den Mittelpunkt. Die Angst, die von einem Mann ausgeht, der bereit ist, alles zu tun, um wieder mit seiner Frau zusammenzukommen, die seinem gewalttätigen Verhalten entkommen und ihn verlassen will. Antoine, gespielt von Denis Ménochet, ist eine konstante Bedrohung für sein Umfeld. In seiner Gegenwart sind alle angespannt; dabei sieht er nur seinen eigenen Schmerz und würde alle manipulieren, einschließlich seiner Kinder. Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, wie jene, die Léa Drucker darstellt, sind immer in erhöhter Alarmbereitschaft. Sie wissen, dass Gefahr überall und jederzeit lauert, dass niemand sicher ist. In Frankreich stirbt alle zweieinhalb Tage eine Frau in Folge häuslicher Gewalt, und auch wenn die Medien darüber berichten, bleibt das Thema weitgehend tabu. Betroffene haben Angst davor, sich zu äußern, Nachbarn und Familienmitglieder sagen nichts, weil sie sich nicht in die Beziehung eines Paares einmischen wollen. Es herrscht große Geheimhaltung. Ich wollte es nicht angehen wie irgendein tagesaktuelles Thema. Wie bereits in AVANT QUE DE TOUT PERDRE wollte ich das öffentliche Bewusstsein für diese Krise durch die Macht des Kinos stärken. Jener Macht, die mich schon immer fasziniert hat, der von Hitchcock, Haneke oder Chabrol. Die Art von Kino, das den Zuschauer einbezieht, in dem mit seiner Intelligenz und seinen Nerven gespielt wird.
Es können auch DIE NACHT DES JÄGERS von Charles Laughton und SHINING von Stanley Kubrick als Ihre Hauptinspirationsquellen für die Annäherung an das Thema genannt werden.
Drei Filme begleiteten mich während des Schreibens: KRAMER GEGEN KRAMER, DIE NACHT DES JÄGERS und SHINING. Ich vergaß sie dann während des Drehens, aber sie halfen mir die Themen, die ich angehen wollte, zu reflektieren und die Stimmung und Atmosphäre zu finden, durch die sich meine Charaktere bewegen. KRAMER GEGEN KRAMER ist ein Film über Elternrechte, der eine große Wirkung auf mich hatte. Zum ersten Mal sieht man eine Frau, die das alleinige Sorgerecht für ihr Kind aufgibt. Er zeigt den Schmerz der Trennung mit furchtbarer Schärfe. DIE NACHT DES JÄGERS illustriert wie kompromisslos eine Person mit Kindern umgehen kann. SHINING inspirierte mich zum letzten Teil meines Films in Bezug auf den Wahnsinn, die Isolation und den Terror. Häusliche Gewalt kann zu purem Horror führen, und das wollte ich zeigen.
Wie verwendeten Sie in Ihrem Film verschiedene Genres oder kinematografische Codes – Realismus, Sozialdrama, Spannung, Thriller – und arbeiteten mit ihnen?
Zunächst habe ich sehr viel recherchiert. Ich begleitete die Arbeit eines Richters am Familiengericht, befragte Anwälte, Polizisten, Sozialarbeiter und nahm sogar an Gruppentherapie-Sitzungen für gewalttätige Männer teil. Solch ein sensibles Thema verlangt, dass man der Realität so nah wie möglich kommt, ohne dass man dabei einen Dokumentarfilm macht oder ein Sozialdrama, das letztendlich nur die Geschichte eines
tragischen Vorfalls erzählen würde. Indem sich der Standpunkt der Geschichte wendet, war ich in der Lage, die Spannung im Alltäglichen herauszustellen. Ich habe eine dramatischen Zugang gewählt, der uns einem 'Helden', Antoine, folgen lässt, aber aus Sicht der verschiedenen Hürden, die er nehmen muss, um seine Ziele zu erreichen: die Richterin, sein Sohn und seine Ex-Frau. So erlebt der Zuschauer in Echtzeit die Zweifel der Richterin, den Druck auf das Kind und den Terror der gejagten Frau. Ich wollte eine politische und universelle Lesart des Themas liefern. Das Publikum dagegen sollte in die Geschichte des Genre-Kinos (das eines Monsters, das seine Beute sucht) eintauchen, in dem die Ungewissheit und Spannung die Erzählung anreichern.
Für Ihren ersten Langfilm haben Sie einige recht mutige Entscheidungen bei der Regiearbeit getroffen, insbesondere beim Ton.
Ja, es gibt praktisch keine Musik im Film. Die Spannung entsteht durch die Verwendung alltäglicher Geräusche – das Echo in einer Wohnung, der Blinker eines Autos, der Zeiger einer Uhr, ein Alarm. Ich habe darüber schon früh nachgedacht, die dramatischen Einsätze des Tons waren schon im Drehbuch. Ich versuche nicht, die Erzählung mit Fantasieelementen anzureichern, sondern die Geräusche einer angsteinflößenden Realität einzufangen. Dasselbe gilt für die Regie. Ich suche nicht nach spektakulären Effekten, sondern verwende lieber die Wiederholung von Einstellungen, an Orten, die mehrfach besucht werden, um ein Gefühl von Vertrautheit zu erzeugen und auch des Eingesperrtseins, um das Gefühl zu vermitteln, dass wir uns in eine furchtbare Spirale begeben.
Was hat Sie dazu gebracht, das gleiche Thema in Ihren ersten beiden Filmen zu behandeln?
Ich hatte NACH DEM URTEIL bereits im Kopf, als ich an AVANT QUE DE TOUT PERDRE arbeitete. Es ist ein Thema, das mich als Mitbürger tangiert und mit dem sich ohne Zweifel unzureichend befasst wird. Mit meinem Kurzfilm bin ich durch ganz Frankreich und auch ins Ausland gereist, wo er in Schulen als Ausgangspunkt für Gespräche und zur Bildung junger Menschen zu diesem Thema gezeigt wurde. Ich wollte weiterhin das Wesen dieser Gewalt erforschen, die männliche Dominanz in Beziehungen, den Irrsinn von Besitzgier und die Verbrechen, die in Familien stattfinden. Ich wollte außerdem mehr über die Unterscheidung von Ehepaar und Elternpaar erfahren. Ist ein gewalttätiger, unpassender Partner zwangsläufig auch ein schlechtes Elternteil? Wie kann das entschieden werden? Wie kann das beurteilt werden? Ich habe mich ausführlich dem Thema gewidmet. Ich habe auch eine Familienrichterin getroffen und ihre Arbeit begleitet.
Der Film beginnt beinahe im Stile eines Dokumentarfilms, mit einer fesselnden realistischen Szene, in der das Paar vor Gericht steht.
Man muss verstehen, dass diese Anhörungen nur sehr kurz sind – etwa 20 Minuten, in denen über die Zukunft der Kinder entschieden wird. Das Justizsystem betrachtet es so, dass die Verbindung zum Kind nicht abgebrochen werden muss, wenn die Gewalt auf ein Elternteil und nicht auf das Kind zielt. Dennoch ist das eine extrem komplexe Frage. Auch wenn das Kind ein legitimes Bedürfnis hat, mit beiden Eltern aufzuwachsen, kann es zum Mittel der Druckausübung werden, ein Instrument für den Partner, der zurückgewiesen wurde und der den anderen nicht mehr erreichen kann. Ein Richter kümmert sich am Tag um etwa 20 Fälle.
Er oder sie hat nur wenige Minuten, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen und um Sorge zu tragen, dass das Gesetz respektiert wird. Dabei sehen sie sich mit sehr fragilen Menschen konfrontiert, die oft eine Rolle spielen, und mit Anwälten, die mehr oder weniger kompetent sind. Ich habe versucht, die Anspannung und emotionale Last dieses Moments einzufangen, indem ich in der Intensität von Echtzeit gedreht habe und indem ich den Zuschauer auf den Platz des Richters setze. Die Parteien sind gleichgestellt und werden von ihrem jeweiligen Anwalt vertreten. Wem glaubt das Publikum? Was entfaltet sich da vor ihren Augen? Für welche Argumente sind sie anfällig? Der Zuschauer wird in Ungewissheit gelassen und muss sich entscheiden. Der Film zeigt, was danach passiert, was der Richter niemals sehen wird.
Die Darsteller fangen diese Zerbrechlichkeit und emotionale Last auf brillante Art und Weise ein. Wie haben Sie sie ausgewählt und angeleitet?
Schon beim Schreiben hatte ich Léa Drucker im Kopf. Für mich ist sie dem Charakter der Miriam sehr ähnlich, mit ihrer Mischung aus Stärke und Zerbrechlichkeit. Miriam ist eine Frau, die durch den Sturm gegangen ist und ihr Leben wieder neu aufbauen muss. Léa hat bereits vor Drehbeginn viel an der Rolle gearbeitet. Ich gab gar nicht viel psychologische Anleitung. Ich bestand lediglich darauf, dass sie an keiner Stelle das Opfer spielen sollte. Ich hatte sie in einem Kurzfilm gesehen, in dem sie in einer sehr liebevollen Beziehung mit Denis Ménochet stand. Wie ich finde, ist auch er ein exzellenter Schauspieler. Ich wollte die beiden in einer anderen Situation sehen, in einer anderen Phase der Liebe. Mit Denis habe ich am Set viel gearbeitet. Wir sprachen über jedes noch so kleine Detail. Es ist eine schwere Rolle, in der er mit Gewalt, Manipulation und der düsteren Seite fertigwerden muss, ohne dass das Publikum die Verbindung zu ihm verliert, ihn abweist und sich weigert, ihn zu verstehen. Er musste sich in einen unglücklichen Mann hineinversetzen, verstrickt in einem inneren Konflikt, der versucht geliebt zu werden, aber die Augen vor der Wahrheit verschließt. Denis Ménochet ist herausragend in dieser Rolle. Er vereint diese Kombination von robuster Männlichkeit und Kindheitsschmerz.
Sowohl Julien als auch seine Schwester spielen wichtige Rollen in Ihrem Film, die verlangen, viele Emotionen mit nur wenigen Worten auszudrücken. In welcher Weise ist für Sie die Kinderperspektive, vor allem Juliens, essentiell für den Film?
Die Kinder haben nur wenig Dialog, weil genau das die Essenz des Themas ist: In Fällen häuslicher Gewalt werden die Stimmen der Kinder kaum gehört. Und wenn sie sprechen dürfen, wird ihnen oft nicht zugehört. Die Geschichte beginnt mit der Richterin, die Juliens Aussage vorliest. Diese Eröffnungsszene bündelt das zentrale Thema des Films: Die eheliche Beziehung und das Handeln als Eltern. Julien steht als Jüngster im Zentrum des Konflikts. Üblicherweise gibt es zwei unterschiedliche Entwicklungen bei Jungen, die in einem Klima häuslicher Gewalt aufwachsen: Entweder reproduzieren sie diese Gewalt oder sie entwickeln ein Syndrom erhöhter Wachsamkeit, um jederzeit entgegenzuwirken. Julien fällt in die zweite Kategorie. Er ist permanent alarmiert und benutzt seine bescheidenen Mittel, um seine Mutter zu schützen. Seine Schwester Joséphine hingegen wartet, bis sie erwachsen ist. Sie wurde ebenfalls in diesem Klima von Gewalt großgezogen und entwickelt ein für Teenagerinnen charakteristisches Verhalten: Sie flieht vor der Familie, um voreilig eine eigene zu gründen. Durch die Kinder zeige ich die unterschiedlichen Auswirkungen, die häusliche Gewalt innerhalb einer Familie auf 'transgenerationale' Weise haben kann. Joséphine reproduziert ein Familienmuster und wird selbst eine junge Mutter genau wie ihre eigene seinerzeit. Man kann sich sogar vorstellen, dass ihre Großmutter dieses Phänomen bereits begonnen hat. Mehrere Generationen, die anscheinend der elterlichen Autorität entfliehen, indem sie selbst so früh wie möglich Mütter werden.
Wie haben Sie mit diesen jungen Darstellern in der Vorbereitung und während des Drehs gearbeitet?
Bei der Arbeit mit Thomas Gioria und Mathilde Auneveux musste ich unterschiedliche Wege gehen. Bei Thomas, für den es seine erste Schauspielerfahrung war, war es mir sehr wichtig, dass er die Realität von Schauspielarbeit begriff und dass er zwischen Realität und Fiktion unterschied – vor allem da seine Rolle sehr schwierig ist und sein Charakter durch einige Extremsituationen geht. Vom Casting bis hin zum Dreh unterstützte ihn Amour Rawyler, ein Experte im Kindercoaching, um die Aufgaben, mit denen er während des Drehs konfrontiert war, zu bewältigen. Thomas hat für sein Alter eine sehr seltene Qualität, die darin besteht, wie er zuhört. Mit 'zuhören' meine ich seine Präsenz, die Art seinem Gegenüber genau zuzuhören. Dabei spricht Thomas mit seinen Augen. Unsere Aufgabe gemeinsam mit dem Coach bestand darin, diese Qualitäten herauszukitzeln, ohne die Spontanität, die bei jungen Darstellern so kostbar ist, zu verlieren. Bei Mathilde, die Joséphine spielt, war es hauptsächlich eine Frage der Proben. Denn die Szenen, in denen sie zu sehen ist, waren technisch schwierige One-Takes, die entsprechend hohe Präzision verlangten, wie die Szene an ihrem Geburtstag. Sie musste ihre Abläufe so genau wie möglich kennen, um frei zu spielen trotz der vielen Beschränkungen.
Foto:
© Verleih
Info:
Originaltitel Jusqu’à la garde Land / Jahr Frankreich 2017 Länge 94 Minuten FSK ab 12 Jahren beantragt Kinostart 23. August 2018 Regie & Drehbuch Xavier Legrand Kamera Nathalie Durand
Rollen und Darsteller
Léa Drucker (Miriam Besson) Denis Ménochet (Antoine Besson) Thomas Gioria (Julien Besson) Mathilde Auneveux (Joséphine Besson) Mathieu Saïkaly (Samuel) Saadia Bentaïeb (Richterin) Émilie Incerti-Formentini (Antoines Anwältin) Sophie Pincemaille (Miriams Anwältin)
Abdruck des Interviews aus dem Filmheft
Wie verwendeten Sie in Ihrem Film verschiedene Genres oder kinematografische Codes – Realismus, Sozialdrama, Spannung, Thriller – und arbeiteten mit ihnen?
Zunächst habe ich sehr viel recherchiert. Ich begleitete die Arbeit eines Richters am Familiengericht, befragte Anwälte, Polizisten, Sozialarbeiter und nahm sogar an Gruppentherapie-Sitzungen für gewalttätige Männer teil. Solch ein sensibles Thema verlangt, dass man der Realität so nah wie möglich kommt, ohne dass man dabei einen Dokumentarfilm macht oder ein Sozialdrama, das letztendlich nur die Geschichte eines
tragischen Vorfalls erzählen würde. Indem sich der Standpunkt der Geschichte wendet, war ich in der Lage, die Spannung im Alltäglichen herauszustellen. Ich habe eine dramatischen Zugang gewählt, der uns einem 'Helden', Antoine, folgen lässt, aber aus Sicht der verschiedenen Hürden, die er nehmen muss, um seine Ziele zu erreichen: die Richterin, sein Sohn und seine Ex-Frau. So erlebt der Zuschauer in Echtzeit die Zweifel der Richterin, den Druck auf das Kind und den Terror der gejagten Frau. Ich wollte eine politische und universelle Lesart des Themas liefern. Das Publikum dagegen sollte in die Geschichte des Genre-Kinos (das eines Monsters, das seine Beute sucht) eintauchen, in dem die Ungewissheit und Spannung die Erzählung anreichern.
Für Ihren ersten Langfilm haben Sie einige recht mutige Entscheidungen bei der Regiearbeit getroffen, insbesondere beim Ton.
Ja, es gibt praktisch keine Musik im Film. Die Spannung entsteht durch die Verwendung alltäglicher Geräusche – das Echo in einer Wohnung, der Blinker eines Autos, der Zeiger einer Uhr, ein Alarm. Ich habe darüber schon früh nachgedacht, die dramatischen Einsätze des Tons waren schon im Drehbuch. Ich versuche nicht, die Erzählung mit Fantasieelementen anzureichern, sondern die Geräusche einer angsteinflößenden Realität einzufangen. Dasselbe gilt für die Regie. Ich suche nicht nach spektakulären Effekten, sondern verwende lieber die Wiederholung von Einstellungen, an Orten, die mehrfach besucht werden, um ein Gefühl von Vertrautheit zu erzeugen und auch des Eingesperrtseins, um das Gefühl zu vermitteln, dass wir uns in eine furchtbare Spirale begeben.
Was hat Sie dazu gebracht, das gleiche Thema in Ihren ersten beiden Filmen zu behandeln?
Ich hatte NACH DEM URTEIL bereits im Kopf, als ich an AVANT QUE DE TOUT PERDRE arbeitete. Es ist ein Thema, das mich als Mitbürger tangiert und mit dem sich ohne Zweifel unzureichend befasst wird. Mit meinem Kurzfilm bin ich durch ganz Frankreich und auch ins Ausland gereist, wo er in Schulen als Ausgangspunkt für Gespräche und zur Bildung junger Menschen zu diesem Thema gezeigt wurde. Ich wollte weiterhin das Wesen dieser Gewalt erforschen, die männliche Dominanz in Beziehungen, den Irrsinn von Besitzgier und die Verbrechen, die in Familien stattfinden. Ich wollte außerdem mehr über die Unterscheidung von Ehepaar und Elternpaar erfahren. Ist ein gewalttätiger, unpassender Partner zwangsläufig auch ein schlechtes Elternteil? Wie kann das entschieden werden? Wie kann das beurteilt werden? Ich habe mich ausführlich dem Thema gewidmet. Ich habe auch eine Familienrichterin getroffen und ihre Arbeit begleitet.
Der Film beginnt beinahe im Stile eines Dokumentarfilms, mit einer fesselnden realistischen Szene, in der das Paar vor Gericht steht.
Man muss verstehen, dass diese Anhörungen nur sehr kurz sind – etwa 20 Minuten, in denen über die Zukunft der Kinder entschieden wird. Das Justizsystem betrachtet es so, dass die Verbindung zum Kind nicht abgebrochen werden muss, wenn die Gewalt auf ein Elternteil und nicht auf das Kind zielt. Dennoch ist das eine extrem komplexe Frage. Auch wenn das Kind ein legitimes Bedürfnis hat, mit beiden Eltern aufzuwachsen, kann es zum Mittel der Druckausübung werden, ein Instrument für den Partner, der zurückgewiesen wurde und der den anderen nicht mehr erreichen kann. Ein Richter kümmert sich am Tag um etwa 20 Fälle.
Er oder sie hat nur wenige Minuten, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen und um Sorge zu tragen, dass das Gesetz respektiert wird. Dabei sehen sie sich mit sehr fragilen Menschen konfrontiert, die oft eine Rolle spielen, und mit Anwälten, die mehr oder weniger kompetent sind. Ich habe versucht, die Anspannung und emotionale Last dieses Moments einzufangen, indem ich in der Intensität von Echtzeit gedreht habe und indem ich den Zuschauer auf den Platz des Richters setze. Die Parteien sind gleichgestellt und werden von ihrem jeweiligen Anwalt vertreten. Wem glaubt das Publikum? Was entfaltet sich da vor ihren Augen? Für welche Argumente sind sie anfällig? Der Zuschauer wird in Ungewissheit gelassen und muss sich entscheiden. Der Film zeigt, was danach passiert, was der Richter niemals sehen wird.
Die Darsteller fangen diese Zerbrechlichkeit und emotionale Last auf brillante Art und Weise ein. Wie haben Sie sie ausgewählt und angeleitet?
Schon beim Schreiben hatte ich Léa Drucker im Kopf. Für mich ist sie dem Charakter der Miriam sehr ähnlich, mit ihrer Mischung aus Stärke und Zerbrechlichkeit. Miriam ist eine Frau, die durch den Sturm gegangen ist und ihr Leben wieder neu aufbauen muss. Léa hat bereits vor Drehbeginn viel an der Rolle gearbeitet. Ich gab gar nicht viel psychologische Anleitung. Ich bestand lediglich darauf, dass sie an keiner Stelle das Opfer spielen sollte. Ich hatte sie in einem Kurzfilm gesehen, in dem sie in einer sehr liebevollen Beziehung mit Denis Ménochet stand. Wie ich finde, ist auch er ein exzellenter Schauspieler. Ich wollte die beiden in einer anderen Situation sehen, in einer anderen Phase der Liebe. Mit Denis habe ich am Set viel gearbeitet. Wir sprachen über jedes noch so kleine Detail. Es ist eine schwere Rolle, in der er mit Gewalt, Manipulation und der düsteren Seite fertigwerden muss, ohne dass das Publikum die Verbindung zu ihm verliert, ihn abweist und sich weigert, ihn zu verstehen. Er musste sich in einen unglücklichen Mann hineinversetzen, verstrickt in einem inneren Konflikt, der versucht geliebt zu werden, aber die Augen vor der Wahrheit verschließt. Denis Ménochet ist herausragend in dieser Rolle. Er vereint diese Kombination von robuster Männlichkeit und Kindheitsschmerz.
Sowohl Julien als auch seine Schwester spielen wichtige Rollen in Ihrem Film, die verlangen, viele Emotionen mit nur wenigen Worten auszudrücken. In welcher Weise ist für Sie die Kinderperspektive, vor allem Juliens, essentiell für den Film?
Die Kinder haben nur wenig Dialog, weil genau das die Essenz des Themas ist: In Fällen häuslicher Gewalt werden die Stimmen der Kinder kaum gehört. Und wenn sie sprechen dürfen, wird ihnen oft nicht zugehört. Die Geschichte beginnt mit der Richterin, die Juliens Aussage vorliest. Diese Eröffnungsszene bündelt das zentrale Thema des Films: Die eheliche Beziehung und das Handeln als Eltern. Julien steht als Jüngster im Zentrum des Konflikts. Üblicherweise gibt es zwei unterschiedliche Entwicklungen bei Jungen, die in einem Klima häuslicher Gewalt aufwachsen: Entweder reproduzieren sie diese Gewalt oder sie entwickeln ein Syndrom erhöhter Wachsamkeit, um jederzeit entgegenzuwirken. Julien fällt in die zweite Kategorie. Er ist permanent alarmiert und benutzt seine bescheidenen Mittel, um seine Mutter zu schützen. Seine Schwester Joséphine hingegen wartet, bis sie erwachsen ist. Sie wurde ebenfalls in diesem Klima von Gewalt großgezogen und entwickelt ein für Teenagerinnen charakteristisches Verhalten: Sie flieht vor der Familie, um voreilig eine eigene zu gründen. Durch die Kinder zeige ich die unterschiedlichen Auswirkungen, die häusliche Gewalt innerhalb einer Familie auf 'transgenerationale' Weise haben kann. Joséphine reproduziert ein Familienmuster und wird selbst eine junge Mutter genau wie ihre eigene seinerzeit. Man kann sich sogar vorstellen, dass ihre Großmutter dieses Phänomen bereits begonnen hat. Mehrere Generationen, die anscheinend der elterlichen Autorität entfliehen, indem sie selbst so früh wie möglich Mütter werden.
Wie haben Sie mit diesen jungen Darstellern in der Vorbereitung und während des Drehs gearbeitet?
Bei der Arbeit mit Thomas Gioria und Mathilde Auneveux musste ich unterschiedliche Wege gehen. Bei Thomas, für den es seine erste Schauspielerfahrung war, war es mir sehr wichtig, dass er die Realität von Schauspielarbeit begriff und dass er zwischen Realität und Fiktion unterschied – vor allem da seine Rolle sehr schwierig ist und sein Charakter durch einige Extremsituationen geht. Vom Casting bis hin zum Dreh unterstützte ihn Amour Rawyler, ein Experte im Kindercoaching, um die Aufgaben, mit denen er während des Drehs konfrontiert war, zu bewältigen. Thomas hat für sein Alter eine sehr seltene Qualität, die darin besteht, wie er zuhört. Mit 'zuhören' meine ich seine Präsenz, die Art seinem Gegenüber genau zuzuhören. Dabei spricht Thomas mit seinen Augen. Unsere Aufgabe gemeinsam mit dem Coach bestand darin, diese Qualitäten herauszukitzeln, ohne die Spontanität, die bei jungen Darstellern so kostbar ist, zu verlieren. Bei Mathilde, die Joséphine spielt, war es hauptsächlich eine Frage der Proben. Denn die Szenen, in denen sie zu sehen ist, waren technisch schwierige One-Takes, die entsprechend hohe Präzision verlangten, wie die Szene an ihrem Geburtstag. Sie musste ihre Abläufe so genau wie möglich kennen, um frei zu spielen trotz der vielen Beschränkungen.
Foto:
© Verleih
Info:
Originaltitel Jusqu’à la garde Land / Jahr Frankreich 2017 Länge 94 Minuten FSK ab 12 Jahren beantragt Kinostart 23. August 2018 Regie & Drehbuch Xavier Legrand Kamera Nathalie Durand
Rollen und Darsteller
Léa Drucker (Miriam Besson) Denis Ménochet (Antoine Besson) Thomas Gioria (Julien Besson) Mathilde Auneveux (Joséphine Besson) Mathieu Saïkaly (Samuel) Saadia Bentaïeb (Richterin) Émilie Incerti-Formentini (Antoines Anwältin) Sophie Pincemaille (Miriams Anwältin)
Abdruck des Interviews aus dem Filmheft