N.N.
London (Weltexpresso) - „Vor einigen Jahren landete ich bei einem Dinner mit einer Handvoll Richter“, erinnert sich Ian McEwan. „Sie redeten über ihre Arbeit, und nur aus Höflichkeit widerstand ich der Versuchung, mir Notizen zu machen. An einer Stelle wollte unser Gastgeber Sir Alan Ward, Richter am Berufungsgericht, eine kleine Meinungsverschiedenheit schlichten, stand auf und zog einen Band aus dem Regal, der seine gesammelten Urteilssprüche enthielt. Eine Stunde später, wir waren inzwischen beim Kaffee, lag das aufgeschlagene Buch auf meinem Schoß. Die Urteile lasen sich wie Kurzgeschichten oder Novellen: die Hintergründe des Rechtsstreits oder Dilemmas knackig zusammengefasst, alle Beteiligten schnell umrissen, der Fall aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – und stets voller Sympathie für jene, zu deren Ungunsten entschieden wurde.
Es handelte sich dabei keineswegs um Kriminalfälle, bei denen ohne jeden begründeten Zweifel geurteilt werden muss, ob jemand Täter oder unglückseliges Opfer ist. Diese Geschichten stammten aus dem Familiengericht, bei dem die ernsten Aspekte des täglichen Lebens verhandelt werden: Liebe und Ehe bzw. deren Ende, komplizierte Vermögensaufteilung, elterliche Grausamkeit und Vernachlässigung, der bitterlich umstrittene Verbleib von Kindern. Realistische Charaktere in plausiblen, fesselnden Situationen, die komplexe ethische Fragen aufwerfen. Das alles fiel mir hier buchstäblich in den Schoß.
Drei Jahre nach meinem Abendessen mit den Herren Richtern erzählte mir Alan Ward von einem Fall, bei dem er einst den Vorsitz führte. Es ging um Zeugen Jehovas. Und der Charakter des betreffenden Richters, der sich mitfühlend und sachlich zugleich um eine gerechte Regelung bemühte, schien untrennbar mit diesem besonderen Fall verbunden. Als ich davon hörte, verstärkte sich mein erster Eindruck noch: Das Familiengericht hat denselben Ausgangspunkt wie Fiktion, nämlich die entscheidenden Fragen des Lebens. Ein Roman, der sich den Luxus leistet, nicht urteilen zu müssen, könnte also Personen und Umstände neu erfinden und eine Auseinandersetzung von Liebe und Glaube erforschen, die Kluft zwischen weltlichen und religiösen Gesetzen.“
McEwans Roman „Kindeswohl“ erschien fünf Jahre später, im September 2014 (in Deutschland 2015). Der Originaltitel „The Children Act“ bezieht sich auf Großbritanniens Children Act von 1989, der die Gesetzgebung revolutionierte, indem er die Bedürfnisse von Kindern über die der Erwachsenen stellt. Das Buch erntete international großes Kritikerlob. „Ian McEwan hat ein Meisterwerk geschaffen – große Literatur“, schrieb der Stern, The Guardian nannte das Werk „einen Triumph der Vorstellungskraft über die Recherche“.
Die Hauptfigur des Romans, Familienrichterin Fiona Maye, steht unter großem privaten Druck, als ihr ein dringlicher Fall vorgelegt wird, bei dem sie entscheiden muss, ob der todkranke, minderjährige Adam Henry gegen seinen Willen und entgegen seiner religiösen Überzeugungen vom Krankenhaus behandelt werden darf.
„Fiona Maye ist eine äußerst zurückhaltende Person“, erklärt Ian McEwan. „Ich würde sagen, sie ist in der langen Reihe meiner Protagonisten eine weitere, die versucht, ein vernünftiges Leben zu führen. Aber auch Fiona muss feststellen, dass das nicht einfach ist und Vernunft uns eben nicht immer bei den Anforderungen des Lebens weiterhilft. Fiona ist in ihrem Beruf sehr erfolgreich, ihr halbes Leben lang hat sie Scheidungen verhandelt. Aber nun ist allmählich die Rente in Sicht und ihre vermeintlich stabile Ehe mit Jack könnte zerbrechen. Sie ist eine gutherzige Frau, kann jedoch schlecht Gefühle zeigen und findet nicht die Worte, um mit ihrem Mann über ihr Sexleben zu sprechen. Deshalb ist sie für diese Krise denkbar schlecht gewappnet.“
„Der Prozess läuft, als Fiona beschließt, Adam im Krankenhaus zu besuchen – was für eine Richterin recht unorthodox ist“, so McEwan weiter. „Aber sie möchte ihn kennenlernen und von ihm persönlich hören, was er will. Als Fiona die Transfusion genehmigt, eröffnet sich Adam, dessen Leben bislang von seiner Religion diktiert wurde, eine ganz neue, komplizierte, wunderbare, beängstigende Welt. Die unerwartete Verlängerung seines Lebens schenkt ihm Freiheit, das Recht, selbst zu entscheiden, woran er glaubt, und selbständig zu denken. Es ist eine Welt des Lernens, des Staunens und der Liebe.“
Schon Monate vor der Veröffentlichung seines Romans erzählte Ian McEwan seinem alten Freund Richard Eyre davon und warf die Idee einer Verfilmung in den Raum, unter Eyres Regie. Nach der TV-Adaption von McEwans Theaterstück „The Imitation Game“ (1980) sowie THE PLOUGHMAN'S LUNCH (1983) hofften beide seit langem, erneut zusammenarbeiten zu können. „Die Projekte mit Richard waren sehr angenehm und ich dachte, dass wir bald wieder etwas zusammen machen würden“, berichtet McEwan. „In den vergangenen 30 Jahren sprachen wir auch immer wieder davon, doch es kam nie dazu. Die Aussicht, erneut mit Richard zu arbeiten, war für mich also die reine Freude und so etwas wie eine Lebensaufgabe. Als ich den Roman ablieferte, sagte ich mir: Wenn dieses Buch jemals verfilmt wird, dann sollte Richard Regie führen. Das Ergebnis wäre allemal ein echter Schauspielerfilm. Einer der vielen Vorteile von Richard Eyre ist seine langjährige Theatererfahrung. Sie hat seine Herangehensweise und seinen Stil geprägt, die Schauspieler lieben ihn. Deshalb wusste ich, dass wir mit ihm als Regisseur wahrscheinlich jeden bekommen, den wir uns für den Film wünschen.“
Die packende Charakterisierung der beiden Protagonisten – die desillusionierte Richterin, der todkranke Teenager –, ihre moralisch schwerwiegenden Entscheidungen und wie beide das Leben des anderen beeinflussen, sprachen Richard Eyre sofort an. „Ian ist ein Rationalist, der seine Figuren mit zuweilen forensischer Präzision seziert“, sagt der Regisseur. „Aber vor allem schafft er Charaktere aus Fleisch und Blut, so dass man nie das Gefühl bekommt, einer Schachpartie moralischer Imperative zuzusehen. Es geht immer um Menschen, die durch das wahre Leben zu Aktionen und Reaktionen getrieben werden – seien es gutwillige oder katastrophale.“
„Fionas Eingreifen und ihr Urteil zugunsten der Medizin führen zu einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit: Auf der einen Seite die Richterin, die gewissermaßen Gott gespielt hat, auf der anderen der Junge, dessen Leben sie damit rettet“, führt Eyre aus. „Unterdessen wirft ihr Mann Fiona vor, ihre Ehe aufzugeben. Sie tut das nicht bewusst. Aber ihre wichtige, kräftezehrende Arbeit nimmt Fiona so sehr in Anspruch, dass sie sich immer mehr von ihrer Gefühlswelt isoliert – und damit auch von ihrem Ehemann. Gleichzeitig fühlt sie sich zu dem Jungen hingezogen, den sie gerettet hat. Er beschäftigt sie. Für Adam wiederum wird Fiona zu einer Lichtgestalt, die Wissen und Souveränität verkörpert – also alles, was er in seinem Leben ansonsten vermisst.“ Eigentlich wollte Ian McEwan das Drehbuch gar nicht selbst schreiben: „Mein erster Impuls war Ablehnung, denn ich hatte keine Lust, mich noch einmal mit dem Stoff zu beschäftigen. Allerdings war es mir auch nicht recht, dass es ein anderer tut. Dass ich die Arbeit am Drehbuch dann doch so interessant fand, war eine positive Überraschung. Ein Roman verschafft dir Zugang zu den Gedanken der Figuren, ein Skript nicht. Gedanken und Andeutungen für einen Film in Worte und Handlungen zu übertragen, ist eine große Herausforderung – intellektuell wie emotional. Aber als ich feststellte, dass mir das tatsächlich Spaß macht, stürzte ich mich in die Arbeit. Letztlich habe ich am Skript genauso lange geschrieben wie an meinem Roman.“
Um KINDESWOHL auf die Leinwand zu bringen, wandten sich Richard Eyre und Ian McEwan an Duncan Kenworthy. Der britische Filmproduzent las die Druckfahnen des Romans in einem Zug durch und sagte sofort zu. „Sie mussten mich nicht erst überreden!“, so Kenworthy. „Im Kino gibt es so wenig Raum für intelligente, fesselnde, bewegende Geschichten – und diese zählt zu den besten. Ich war immer ein Fan von Ian, aber diesmal ist es, als hätten alle seine Themen ihre perfekte Form und genau den richtigen Platz gefunden. Die Handlung an sich klingt vielleicht simpel, ein Justizdrama eben. Aber die emotionalen Feinheiten – die brillante, kinderlose Richterin, hin- und hergerissen zwischen ihrem Mann und dem Jungen, dessen Leben sie retten oder opfern muss – sind wunderbar komplex.“
„Ians mitreißender Stil zeichnet sich durch Präzision aus – die Fähigkeit, jeden Gedanken und jedes Gefühl auf den Punkt zu bringen“, fährt Kenworthy fort. „Er liebt die Recherche und beschäftigt sich ausführlich mit dem Milieu, in dem seine Geschichten spielen. Das überträgt sich nahtlos auf die Leinwand. Seine Drehbücher sind grandios klar und geradezu zwingend. Denn sie ziehen dich unweigerlich in die Story hinein.“
Kenworthy war überzeugt, dass sich die kreative Partnerschaft von McEwan und Regisseur Richard Eyre in jeder Hinsicht auszahlen würde. „Richard und Ian sind eng befreundet, beide kennen und schätzen die Stärken des anderen. Aber selbst wenn das nicht so wäre: Richard wäre dennoch der beste Regisseur für diesen Film, denn er bewegt sich hier auf ähnlichem Terrain wie schon in den Meisterwerken IRIS („Iris“) und TAGEBUCH EINES SKANDALS („Notes on a Scandal“). Außerdem ist er der ideale Schauspieler-Regisseur: Dieser Film steht und fällt – von Richards erzählerischen Stärken einmal abgesehen – mit den Darstellerleistungen.“
Foto:
© www.ianmcewan.com
Info:
BESETZUNG
Fiona Maye Emma Thompson
Jack Maye Stanley Tucci
Adam Henry Fionn Whitehead
Mark Berner Anthony Calf
Nigel Pauling Jason Watkins
Kevin Henry Ben Chaplin
Nikki Amuka-Bird Amadia Kalu
Abdruck der Produktionsnotizen aus dem Presseheft
© www.ianmcewan.com
Info:
BESETZUNG
Fiona Maye Emma Thompson
Jack Maye Stanley Tucci
Adam Henry Fionn Whitehead
Mark Berner Anthony Calf
Nigel Pauling Jason Watkins
Kevin Henry Ben Chaplin
Nikki Amuka-Bird Amadia Kalu
Abdruck der Produktionsnotizen aus dem Presseheft