Claus Wecker
Bonn (Weltexpresso) - Als in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Stummfilme wiederentdeckt wurden, musste man sich oft mit verblichenen, unvollständigen Kopien zufriedengeben, die in der Regel auch zu schnell abgespielt wurden. Das tat allerdings der Begeisterung keinen Abbruch. Die umfangreiche Buster-Keaton-Retrospektive im Dezember 1971 in Frankfurt wurde ein großer Erfolg. Ausverkaufte Vorstellungen, nächtliche Wiederholungen, die Besucherschlange wand sich um das Volksbildungsheim, das man später zum CineStar Metropolis umbaute.
Heutzutage werden restaurierte Kopien und deren digitale Versionen in teils erstaunlicher Bildqualität vorgeführt. Und einmal im Jahr ruft eine Veranstaltung eine ähnliche Begeisterung hervor wie seinerzeit in Frankfurt: das Bonner Sommerkino im Arkadenhof der Universität. Es wartete am ersten Tag mit einer stattlichen Warteschlange auf, die sich bis in eine Seitenstraße hinzog. Und zu sehen gab es, wen wundert’s, einen Buster-Keaton-Film.
»One Week« (1920), mit dem deutschen Titel »Flitterwochen im Fertighaus«, handelt von einem frischvermählten Paar, das ein Fertighaus selbst zusammenbauen muss. Buster Keaton hat den handwerklichen Teil übernommen, während die Braut (Sybil Seely, seinerzeit eine Nebendarstellerin) für die gute Stimmung und den Haushalt sorgt. Weil ein Bösewicht die Nummern der Bauteile umgepinselt hat, kommt bei Busters Bautätigkeit ein surreales Gebilde heraus.
Man kann Keatons Kurzfilme als Fingerübungen zu seinen langen Filmen ansehen oder die großen Filme als Weiterentwicklung seiner Anfänge. In »One Week« wird gezeigt, wie ein Wandteil so auf Buster fällt, dass er mitten in einer Fensteröffnung unverletzt bleibt. Dieser »Gag«, wenn man das lebensgefährliche Erzeugen eines Lachers so bezeichnen will, findet sich in »Go West« (Der Cowboy) von 1925 wieder, dort mit einer größeren Hauswand. Das Filmteam soll den Komiker bei den Dreharbeiten für verrückt erklärt haben. Von diesen und anderen aufregenden Stunts einmal abgesehen, bietet auch der 25-minütige Kurzfilm einige wunderschön scheue Liebesszenen: kurze Küsse und verliebte Blicke der Braut und die scheu-verlegenen des Bräutigans.
Im Anschluss wurde das selten gezeigte Drama »Abwege« (1928) von G.W. Pabst vorgeführt. Das Werk gehört zu den Kontingentfilmen, die von Hollywood-Firmen produziert werden mussten, damit diese ihre eigenen Filme in Deutschland vertreiben durften. Die Amerikaner sollen damals den Regisseuren freie Hand gegeben haben, was Pabst gereizt haben dürfte. Mit Brigitte Helm (bekannt aus »Metropolis«) und Gustav Diessl hat er die Geschichte einer mondänen Berlinerin verfilmt, die sich von ihrem ständig arbeitenden Mann vernachlässigt fühlt. Bevor sich die Heldin am Ende wieder für ihren Ehemann entscheidet, muss es noch zur Scheidung kommen. Doch auf einer Bank im Gerichtsgebäude, die auch heute noch für Wartende dort so stehen könnte, fragen sie sich: »Wann heiraten wir?«
Wer sich mit der Filmhistorie beschäftigt, kennt den Namen William S. Hart. Der Cowboy-Darsteller gilt als Vorgänger von John Wayne und Randolph Scott. Doch wer kennt seine Filme? In Bonn gab es den Western »Wagon Tracks« (Planwagen nach Santa Fe, 1919) zu sehen, der schon vier Jahre nach »The Birth of a Nation« eine anspruchsvolle Parallelmontage enthält. Der »Anflug unaffektierter Kunstfertigkeit«, wie es in einer zeitgenössischen Filmkritik heißt, macht Hart zu dem netten Mann von nebenan, der zufällig in den Wilden Westen geraten ist.
Mittlerweile beschäftigen sich die großen staatlichen Filmarchive so intensiv mit ihren Schätzen, dass sie auch unfertiges Material restaurieren, das noch nie auf eine öffentliche Kino-Leinwand gekommen ist. So hat der Regisseur Henri Colpi das ungeschnittene, in der Cinémathèque française gefundene Material von André Antoine erst 1983 zu dem Film »L'hirondelle et le mésange« (Die Schwalbe und die Meise, Belgien 1920) zusammengefügt. Wie Helmut Käutner in »Unter den Brücken« und Jean Vigo in »L’atalante« erzählt auch Antoine von Binnenschiffern, von ihrem Leben auf den Lastkähnen, mit denen sie auf Flüssen und Kanälen ihre Fracht transportieren. Dieses ausgesprochen filmische Sujet mit einem bleibenden Handlungsort und einer wechselhaften Umgebung ist hier so dokumentarisch aufgefasst, dass der Produzent damals den Film nicht fertigstellen ließ. Erst heute können wir ein poetisches Meisterwerk bewundern, das den Vergleich mit den beiden genannten Filmen nicht zu scheuen braucht.
Fotos:
Keaton und »Abwege«
© Bonner Sommerkino©
Info:
Die Stummfilmtage werden vom 6. bis 12. September im Filmmuseum München wiederholt.