Bildschirmfoto 2018 09 12 um 22.38.30Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. September 2018, Teil 2

Alice Rohrwacher

Rom (Weltexpresso) - »Glücklich wie Lazzaro« ist die Geschichte eines unscheinbaren Heiligen, der keine Wunder vollbringt, der über keine besonderen Fähigkeiten verfügt, keine magischen Kräfte besitzt, eine Geschichte ohne Special Effects. Ein Heiliger, der in dieser Welt lebt und von niemandem etwas Böses denkt, der immer an die Menschen glaubt. Eine Geschichte, die von der Möglichkeit des Gutseins erzählt, die die Menschen immer ignoriert haben und die dennoch immer wieder auftaucht, um sie in Frage zu stellen; wie etwas, was hätte sein können, aber was wir niemals gewollt haben. »Glücklich wie Lazzaro« ist ein politisches Manifest, ein Märchen über die Geschichte Italiens der letzten fünfzig Jahren, ein Lied. 

LAZZARO FELICE - ANMERKUNGEN VON ALICE ROHRWACHER

LAZZAROS

Ich bin oft solchen Menschen begegnet, in meinem Land, guten Menschen, die sich aber sel- ten selbst so sehen, da sie mit diesem Begriff gar nichts anfangen können. Ich habe solche „glücklichen Lazzaros“ getroffen, Menschen, die einfach gut sind. Sie bleiben im Hintergrund, wann immer es möglich ist, sie nehmen sich zurück, um nicht zu stören, um den anderen Raum zu geben. Sie drängen sich nicht vor, sie wissen gar nicht, wie das geht. Es sind diejenigen, die am Ende oft die undankbarste Arbeit übernehmen, über die andere die Nase rümpfen, und sie werden nicht wahrgenommen.

Ohne dass es ihre Absicht wäre, passiert es dann manchmal doch, dass ein Lazzaro Teil einer Geschichte wird. Irgendeiner, ein Passant, ein Ladenbesitzer, ein junger Aufsteiger, ein Rentner oder wer auch immer bemerkt ihn, betrachtet ihn mit Skepsis, versteht sein Verhalten vielleicht falsch und brüllt los: „Der war es! Der ist gefährlich!“ Denn irgendwie ist dieser Gang ja tatsächlich etwas seltsam, dieses Schweigsame, diese ganze Art ... Und plötzlich übernimmt das Misstrauen die Überhand, die Angst. Ein Lazzaro kann sich nicht gegen falsche Anschuldigungen verteidigen. Er schaut nur ungläubig, während man ihn packt, verletzt und verjagt.


HELDEN UND HEILIGE

Die Literatur und die Filmgeschichte sind voll von Figuren, die sich auflehnen, die gegen das Unrecht kämpfen, die die Welt verändern wollen und zu Helden werden. Ein Lazzaro aber kann die Welt nicht verändern. Seine innere Größe ist unscheinbar. Wir stellen uns Heilige oft stark, durchsetzungsfähig und mit einer gewissen Aura vor. Ich denke aber, dass es nicht die Aura ist, die einen Heiligen ausmacht. Tauchte ein Heiliger heute in unserem Leben auf, würden wir ihn wahrscheinlich in seinem für unsere Erfahrung viel zu selbstlosen Wesen gar nicht erkennen. Wir würden ihn vermutlich, ohne groß darüber nachzudenken, loswerden wollen. Er ist so ungewöhnlich, so naiv, dass man ihn für verrückt halten könnte, für einen Dummkopf.


DAS „ITALIENISCHE“ DER GESCHICHTE

Mit den Erlebnissen von Lazzaro wollte ich so unaufdringlich wie möglich, mit Liebe und Humor von den verheerenden Veränderungen erzählen, die Italien erfahren hat, vor allem der Übergang von einem materiellen Mittelalter zu einem menschlichen Mittelalter: Das Ende der Agrargesellschaft, die Migration der Menschen vom Land an die Ränder der Städte, deren Modernität ihnen fremd war: Menschen, die das Wenige, das sie hatten, zurückließen und dann noch weniger hatten. Eine staubige, verdreckte Welt der Ausbeutung kommt an ihr Ende und legt sich in der Stadt ein viel saubereres, attraktiveres Gesicht zu.

Foto:
© Verleih

Info:
GLÜCKLICH WIE LAZZARO
Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Sergi Lopez und Nicoletta Braschi

Buch und Regie: Alice Rohrwacher
Bildgestaltung: Hélène Louvart
Montage: Nelly Quittier
Originalton: Christophe Giovannoni
Szenenbild: Emita Frigato
Kostümbild: Loredana Buscemi