Alice Rohrwacher
Rom (Weltexpresso) - Ohne es zu wissen, reist Lazzaro durch die Zeit und betrachtet die Gegenwart mit seinen großen freundlichen Augen wie ein schwieriges Rätsel. Warum eine Zeitreise? Beim Blättern in einem Geschichtsbuch reiht sich eine Epoche an die nächste, die sich von der vorangehenden unterscheidet, ihr aber auch ähnelt. Als ich zur Schule ging, wollte ich immer das Buch nehmen und schütteln, um die Seiten zu mischen. Das Kino lässt das auf eine gewisse Art möglich werden.
DIE WIRKLICHE MARQUESA UND DER GROSSE BETRUG
Als Inspiration für den Film diente mir die wahre Geschichte einer Marchesa aus dem Zentrum Italiens, die die Abgeschiedenheit ihrer Ländereien nutzte, um ihren Bauern die Information über die Abschaffung der Natural- pacht vorzuenthalten. Als der italienische Staat 1982 alle noch bestehenden Halbpacht-Verträge in ordentliche Pacht- oder Lohnarbeitsverträge umwandelte, machte die Gräfin weiter, als sei nichts geschehen. Die Landarbeiter lebten noch einige Jahre nach der Abschaffung der Natural- pacht in sklavenähnlichen Verhältnissen. Die Geschichte dieser Landarbeiter hat mich sehr berührt. Sie haben ihren Moment in der Geschichte verpasst, er wurde ihnen geraubt. Sie konnten nicht Teil der Veränderungen wer- den, sondern nur noch die Scherben des Um- bruchs aufsammeln. Für die Öffentlichkeit war diese Geschichte eine Randnotiz, die am nächs- ten Tag schon wieder vergessen war. Bei den Bauern aber erinnert bis heute ein Zeitungsartikel an der Wand als vergilbter Beweis an eine zerbrochene Welt, die sie abgehängt hat. „Il grande inganno – Der große Betrug!“
REALISMUS UND MÄRCHEN
Mehr noch als in meinen bisherigen Filmen wollten wir bei „Glücklich wie Lazzaro“ mit dem Genre des Märchens experimentieren, mit seinen Rätseln, Widersprüchen, wundersamen Begebenheiten, seinen guten und schlechten Figuren. Nicht im Sinne eines Gleichnisses oder einer Verheißung übermenschlicher und rätselhafter Abenteuer: Das Märchenhafte dient hier als Bindeglied zwischen der Realität und einer anderen Ebene der Wahrnehmung. Denn Symbole entspringen dem Leben, sie sind so vielschichtig und umfassend, dass sie für das Leben aller stehen können, für ein Land wie Italien und dessen Veränderung. Es geht um die immer gleiche Geschichte vom Neuanfang, vom Phönix aus der Asche, von der Unschuld, die uns trotz allem immer wieder begegnet und beschäftigt.
Die Figuren und Begebenheiten sind zugleich realistisch und märchenhaft, so wie die Orte zugleich fast naturalistisch und fantastisch sind: Auf der einen Seite liegen die abgeschiedenen Felder, die nach dem Einsturz der einzigen Brücke vom Rest der Welt getrennt sind.
Hier liegt das Dorf Inviolata, das letzte Bollwerk der Macht der Zigarettenkönigin, der Marchesa Alfonsina de Luna, die jeden Sommer eine waghalsige Flussüberquerung auf sich nimmt, um auf ihrem Landsitz dem Glanz der alten Zeiten zu frönen. Und auf der anderen Seite liegt die große Stadt, in der die Zeit atemlos schnell vergangen zu sein scheint.
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Info:
GLÜCKLICH WIE LAZZARO
Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Sergi Lopez und Nicoletta Braschi
Buch und Regie: Alice Rohrwacher
Bildgestaltung: Hélène Louvart
Montage: Nelly Quittier
Originalton: Christophe Giovannoni
Szenenbild: Emita Frigato
Kostümbild: Loredana Buscemi