f TOKAT Team1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. September 2018, Teil 30

N.N.

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was heißt „Tokat“?

A: „Tokat“ ist türkisch und bedeutet wörtlich übersetzt „Backpfeife“. In den 90er Jahren wurde „Tokat“ hauptsächlich von Jugendlichen als Begriss für „Abrippen/Abziehen“ verwendet – zum Beispiel der Jacken-Tokat.


Wie seid ihr darauf gekommen eine Doku über ehemalige Jugendbanden Mitglieder zu drehen?

C: Wir beide sind in Frankfurt und Offenbach aufgewachsen. In den 90er Jahren waren wir Teenager und hatten von den Jugendbanden, den Jackendiebstählen und Prügeleien gehört oder kannten jemand, der das erlebt hatte. Für uns waren die Jugendlichen aus den Jugendbanden Leute, denen man besser aus dem Weg geht, um Ärger zu vermeiden. In den 2000er-Jahren sind die Jugendbanden dann komplett aus dem Stadtbild verschwunden. Wir haben uns gefragt, was wohl aus den Jungs und Mädchen aus der Zeit von damals geworden ist.


Welche Herausforderungen habt ihr beim Drehen erlebt?

A: In der Türkei war es schwer eine Drehgenehmigung zu bekommen, da das Gebiet am Fuße des Berges Ararat, in dem wir gedreht haben, ein Konfliktgebiet mit viel Militär und Polizei ist. Wir haben stundenlang in Ämtern Tee getrunken und gewartet, um die Formalitäten für den Dreh zu klären.


Das war euer erster langer Dokumentarfilm. Bei eurer Finanzierung gab es eine Besonderheit?

A: Wir haben über die Crowdfunding-Initiative „KulturMut“ viele Unterstützer gefunden, die uns Geld gegeben haben. Dieses Geld wurde dann ergänzt durch die Förderung der Aventis Foundation Der ganze Prozess des Crowdfundings war für uns eine spannende Reise und wir haben darüber viele Menschen kennengelernt, die sich an die Zeit in den 90er erinnern. Ein Unterstützer hat uns angeschrieben, der berichtete, dass er Kerem von früher kennt und zum passionierten Fahrradfahrer wurde, weil er immer auf dem Rad vor ihm geflüchtet ist und nun als Fahrradkurier arbeitet.


Wie seid ihr zu euren Protagonisten gekommen? Waren die von Anfang an offen für das Projekt oder hat sich die Einstellung im Laufe der Dreharbeiten verändert?

A: Ein Kommilitone von Cornelia kannte die Jugendbanden in Frankfurt und so lernten wir Leute aus der damaligen Szene kennen und auch Hakan, Dönmez und Kerem aus unserem Film TOKAT. Während unserer Recherche haben wir viele Menschen getroffen, die ähnlich wie wir, sich an ihre Jugend erinnerten und Geschichten von Erlebnissen mit den Jugendbanden erzählten. Aber auch unter den Jugendlichen beispielsweise in den Jugendzentren kursieren noch viele Geschichten aus dieser Zeit – der Mythos der Banden ist dort sehr lebendig.

Es erfordert sehr viel Mut anderen Menschen von einem Leben zu erzählen, dass außerhalb deren Erfahrungshorizonts liegt. Was für die meisten wohl zutrifft, die nicht in Jugendbanden waren und eine kriminelle Vergangenheit haben, im Gefängnis waren und Drogen nahmen. Es war eine große Herausforderung für uns, das Vertrauen der Protagonisten zu gewinnen und wir haben grossen Respekt vor deren Offenheit. Wir sind an der Arbeit gewachsen. Das sieht man in unserem Film TOKAT.


Wie war das denn in den 90er Jahren? Wie war die Zeit als die Jungs in Banden waren für Euch, was habt ihr damals gemacht und was fandet ihr cool und aufregend?

C: Wir waren beide damals 13 Jahre alt und sind in der Großstadt aufgewachsen. Andreas Eltern haben in der Obdachlosen- und Jugendarbeit gearbeitet.

A: Ich war ein New Kids on the Block-hörendes Mädchen und bin ab und zu mit auf die Jugendfreizeiten meiner Eltern mitgefahren.

C: Wir hatten weder Bomberjacken, noch Walkman noch Markenschuhe und waren daher nicht wirklich interessant für beispielsweise einen Jacken-Tokat.


Um was geht es in TOKAT?

Der Film erzählt vom Leben und was aus den ehemaligen Bandenmitgliedern geworden ist. Es geht darum, wie die Entscheidungen, die man in der Jugend trifft, Einfluss auf das ganze Leben haben. Jugendliche testen Ihre Grenzen, wollen „wer“ sein und suchen Identität und Zugehörigkeit. Anhand der Geschichten der drei Männer kann man sehen, wie wesentlich man sein Leben durch die Weichen, die man in der Jugend gestellt hat, beeinflusst.


Warum ist der Film relevant?

Die Kinder der ersten Einwanderergeneration wurden oft als „Lost Generation“ bezeichnet. Anfang der 90er Jahre war die Zahl der Asylbewerber sprunghaft angestiegen. Es gab viele fremdenfeindliche Ereignisse wie z.B. in Solingen.

Auch heute ist das Asylrecht auf der einen und Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite wieder ein großes Thema in Deutschland. Es gibt wieder vermehrt Übergriffe gegen Menschen mit Migrationshintergrund. In Deutschland gibt es durch die Flüchtlingskrise wieder eine heftige Debatte über Zuwanderung. Diese Debatte ist ähnlich Anfang der 90er geführt worden. Damals haben sich viele Jugendliche mit Migrationshintergrund durch den Anschlag in Solingen nicht mehr als Teil der Gesellschaft gesehen. Die Reaktion mit Kriminalität und Abgrenzung vieler Jugendlicher war begründet in Frustration darüber, nicht in der Gesellschaft angenommen zu sein.


Ihr arbeitet als Team?

Wir haben schon im Studium zusammen Filme gemacht und daraufhin eine Firma gegründet. Eine Besonderheit unserer Zusammenarbeit ist, das wir uns blind verstehen und aufeinander verlassen können. Uns interessieren ähnliche Themen und Geschichten.


Was steht als nächstes bei euch an?

Wir machen im Herbst 2018 eine deutschlandweite Kinotour mit TOKAT. Wir freuen uns auf die Filmgespräche und wollen uns mit unserem Publikum austauschen und in einen aktiven Dialog gehen. Ebenfalls recherchieren wir einen neuen Film zum Thema: Die Obsession – Filmemachen gegen alle Widerstände.

Foto:
© Verleih

Info:
Filmtitel: Tokat – Das Leben schlägt zurück
von Andrea Stevens und Cornelia Schendel
Filmgattung: Dokumentarfilm
Produktionsland: Deutschland, Türkei
Produktionsjahr: 2016
Länge: 78 min
Bildformat:16:9
Ton: Dolby Digital
Sprachfassung: Deutsch/Türkisch (Originalfassung mit Untertiteln)
Vorführformat: DCP
FSK: 12

Abdruck aus dem Presseheft

Weltexpresso hatte die Frankfurter Premiere am 13. September angekündigt:
https://weltexpresso.de/index.php/kino/13877-drei-aus-einer-frueheren-tuerkischen-frankfurter-jugendgang

Außerdem wurde der Film 2016 mit einem der Preise des Hessischen Filmpreises ausgezeichnet
https://weltexpresso.de/index.php/kino/8194-der-hessische-filmpreis