Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. September 2018, Teil 32
Hanno Lustig
Köln (Weltexpresso) – Teil 1: Wenn ich an Seestücke denke, dann denke ich zuerst an die großen filmischen Bilder, die ich mit oder ohne Kamera an der Ostsee erlebt habe. Natürlich sind es auch die Darstellungen in der Malerei, die immer wieder in Gedanken aufscheinen; schließlich ist der Begriff „Seestück“ ein fester Terminus in der Bildenden Kunst, gebräuchlicher noch als „Landstück“.
Die Motive: die hohen Himmel über dem Meer und ihre Wolkenbildungen. Wellen und Stürme. Überhaupt: der Wind und die Elementarkräfte. Buchenwälder, die bis an die Strände reichen. Steilküsten und Wanderdünen. Die großen Ströme, die sich übers Haff ins Meer ergießen. Das winterliche Erstarren des Wassers an den Küsten, die bizarren Eisbildungen, Platten, die sich wie gefrorene Wellen übereinander schieben. Dies ist allerdings aufgrund der Klimaerwärmung nicht mehr oft zu erleben.
Teil 2: Wie bei „Landstück“ hat auch der filmische Ansatz für SEESTÜCK autobiografische Züge. Die Ostsee, das kleine Meer, wurde neben den Hügeln Nordbrandenburgs und Vorpommerns zu meinem Sehnsuchtsort. Ich weiß nicht, wo ich das erste Mal ein Seestück sah. Im pommerschen Stettin, meinem Geburtsort, sicher nicht: Swinemünde war gerade zerbombt, das Foto am Strand, an dem meine Schwestern zu sehen sind, entstand vor meiner Geburt.
Wenige Jahre danach, im vorpommerschen Greifswald angekommen, habe ich erste Erinnerungen an den Bodden bei Eldena. Später, in den Fünfzigern, wird es konkreter. Die aufgeregte Stimmung am Berliner Ostbahnhof, von wo wir in die Sommerfrische nach Prerow aufbrachen. Die Wanderungen durch den Urwald zum Strand, die starke Brandung bei Westwind, die Windflüchte ... Dann kamen die Touren mit der Schulklasse zur Ostsee.
Ab 1961 waren die vorpommerschen Küsten besonders stark bewachtes Grenzgebiet; Scheinwerfer und Soldaten scheuchten uns aus unseren Nachtlagern vom Strand. Als 1989 die Mauer fiel, drehte ich gerade mit Fischern auf Usedom. Bald darauf war auch der Weg zur Kurischen Nehrung frei, und wir drehten unsere ersten Filme im früheren Ostpreußen, an den russischen und litauischen Küsten der Ostsee.
Teil 3: Der geografische Raum der Ostsee hat eine lange Geschichte aus Kriegen, Teilungen, Vertreibungen und Flüchtlingsströmen. Mich interessieren die Geschichte der Deutschen und ihrer östlichen und nördlichen Nachbarn. Die Hoffnungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und die neuen Spannungen der letzten Zeit: Großmanöver der Nato an den baltischen Küsten und russische Scheinangriffe.
Zur Gegenwart gehören auch die starken ökologischen Probleme des Binnenmeeres Ostsee. Schon vor Jahren erzählten mir Fischer von Phosphor-Resten aus WeltkriegsMunition in ihren Fischernetzen, mit denen sie sich die Hände verbrannten.
Heute leidet die empfindliche Ostsee an den negativen Folgen des Klimawandels. Durch die Erwärmung des Meerwassers bilden sich Blaualgenteppiche und Todeszonen immer weiter aus. Die allgemeine Verschmutzung der Meere, etwa durch Plastikmüll und Rückstände aus der Landwirtschaft, sind ein großes Problem.
Die Meerregionen unseres Seestücks sind das traditionelle Arbeitsgebiet der Fischer. Ihr Alltag hat sich durch den Rückgang der Fischbestände und die Regulierung durch EU- Normen und Fangquoten drastisch verändert. Der Verdienst ist so gering, dass viele ihren Beruf aufgeben müssen. Wie in der Landwirtschaft findet auch hier die Verdrängung durch hochtechnisierte, industrialisierte Unternehmen statt.
Teil 4: Wie immer waren die Dreharbeiten für mich eine Entdeckungsreise. Der Reiseschriftsteller Willibald Alexis hat vor bald 200 Jahren notiert, dass der Wandernde, der vor seiner Reise schon alles weiß, unterwegs nichts mehr sieht und auch keine wirklichen Erlebnisse hat. Für SEESTÜCK bezieht sich das auch auf die für diesen Film so wichtigen Bilder und Stimmungen aus der Natur. Ohne direkt darauf zu sprechen zu kommen, soll man spüren können, warum die Ostsee eine so große Anziehungskraft für Maler und Literaten hatte und warum sie sich so besonders für die Bildung von Mythen eignete.
Foto:
© Verleih
Info:
SEESTÜCK ein Film von Volker Koepp Deutschland 2018,
135 Minuten mehrsprachige OF (Deutsch, Schwedisch, Dänisch, Estnisch, Lettisch, Russisch, Polnisch) teilw. mit deutschen UT
Abdruck aus dem Presseheft