Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. September 2018, Teil 10
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Rundherum ein gelungener Film, der auch deshalb 120 Minuten spannend bleibt, weil man zwar das glückliche Ende ahnt/weiß, Regisseur Michael Bully Herbig aber diese wahre Geschichte so unaufgeregt erzählt, daß sie gerade dadurch in Bann zieht: wie nämlich 1979 zwei Familien in Thüringen einen Heißluftballon konstruieren und herstellen, mit dem sie nachts über die Zonengrenze gondeln und tatsächlich im Westen, in Bayern landen. An diesem Film kann man mal wieder sehen, daß echte Spannung keine aufdringlich, unechte Spannungsinszenierung braucht, wenn sie denn in der Geschichte vorhanden ist.
Aber was heißt ‚einen‘ Heißluftballon? Im Nachhinein denkt man sich, wenn gleich der erste Versuch dieser Ballonfahrt geklappt hätte, wäre es zwar für die Beteiligten weniger aufregend gewesen, aber sicher hätte dann ein Film niemals die Anteilnahme für beide Familien und ihr Vorhaben entwickelt, wie es dieser Film kann, an dessen Drehbuch Bully Herbig mitschrieb, zusammen mit Kit Hopkins und Thilo Röschelsen. Die drei konnten zudem auf wichtige Hilfen bauen: Die beiden Familien Strelzyk und Wetzel waren am Drehbuch beteiligt und sind auch nach dem Film voll des Lobes über die filmische Umsetzung. Und die Strelzyks hatten 1999 mit einer Journalistin zusammen das Sachbuch SCHICKSAL BALLONFLUCHT – DER LANGE ATEM DER STASI veröffentlicht.
Fangen wir an, wie es auch im Film geschieht. „Und wann haut Ihr ab?“ Das fragt der Nachbar von Familie Strelzyk ganz offen, uns stockt mit Peter Strelzyk (Friedrich Mücke) der Atem. Der Nachbar ist ein Stasimann. Das auch noch. Aber schon im nächsten Moment klärt sich alles. Aufatmen. Der Typ hatte den anstehenden Urlaub der Familie gemeint. Denn und das leistet der Film erstaunlich authentisch, im Zusammenleben der Leute gab es auch Überwachung, aber diese Frage ist ganz harmlos gemeint, entspricht aber der Wärme, die im Miteinander der Leute in der DDR sehr viel stärker wahrnehmbar war als beispielsweise im Westen, wo sich seit jeher die Leute auch in den Dörfern stärker voneinander abgrenzen.
Aber hier in Thüringen, in Pößneck, gibt man was auf Nachbarschaft und hat trotzdem genau im Auge, was man den Nachbarn erzählt und was besser nicht. Aber nicht jeder darf miteinander so vertraut sein wie Peter und Doris Strelzyk (Karoline Schuch) mit Günter (David Kross) und Petra Wetzel (Alicia von Rittberg), beide Familien mit Kindern, die der Strelzyks schon bald Jugendliche, die der Wetzels noch klein. Denn, wenn man verabredet, gemeinsam ‚rüberzumachen‘ nach Westdeutschland, dann ist schon das Vorhaben selbst wegen Denunziation oder auch Auffälligkeiten gefährdet, ganz abgesehen davon, ob dann diese Ballonfahrt technisch klappt. Gut, daß der Film uns nicht die ganze Wahrheit erzählt. Dadurch bleibt im übrigen auch nach dem Anschauen des Films das Interesse an der Flucht bestehen. Denn in den Interviews, die anläßlich des Anlaufens des Films, in Bild und Ton reichlich zu sehen sind, kommt auch heraus, daß es nicht nur zwei Heißluftfluchten gab, sondern sogar drei. Und auch hier hat Bully Herbig alles richtig gemacht und läßt den ersten Versuch untern Tisch fallen, bei dem, wie man dann später hört, die Familien falsches Material (gasdurchlässigen Futterstoff) zum Zusammennähen der Stoffbahnen des Ballons genommen hatten.
So aber steigen wir mit dem 2. Versuch ein, der also hier der erste ist. Und sind auch gleich mitten im Geschehen, denn nach der Frage des Stasinachbarn,wann sie abhauen, werden wir eingeweiht: es geht bald los. Wir werden Stück für Stück auch informiert, wie man so einen Heißluftballon überhaupt fertig. Mit der Nähmaschine, die Peter Strelzyk perfekt beherrscht, wir wie sehen, wenn er er die letzten Bahnen zusammennäht. Nur gibt es auf einmal ein Problem. Das Ehepaar Wetzel will nicht mitkommen, sind unsicher geworden, haben auch Angst. Dann muß es eben ohne sie gehen, denn die Zeit drängt. Noch sind wir Zuschauer nicht richtig vertraut mit dem Ballonbauen und wie das Ganze funktioniert. Aber gerade deshalb guckt man ganz genau, wenn die nächtliche Fahrt mit dem Wagen und dem Anhänger in den Wald losgeht. Unglaublich, echt wie im Kino, wenn dann die Familie in die Gondel steigt, das Gas entzündet und tatsächlich die warme Luft den Ballon aufbläst und nach oben treibt. Im Waldgebiet ist erst einmal die Gefahr, mit der Gondel die Bäume zu streifen, das ganze Unternehmen wirkt todgefährlich, von dem auch nachher die Flüchtlinge sagen, sie hätten gar nicht genau gewußt, sich auch gar nicht gefragt, wie gefährlich das Ballonfahren tatsächlich war.
Aber daran denken wir mit Familie Strelzyk erst einmal gar nicht, denn wir schauen gebannt auf die Lichter, die auftauchen. Wie lange ist der Ballon unterwegs, wo ist denn die in Flutlicht getauchte Grenze genau, mit der übrigens der Film beginnt, wenn ein Republikflüchtling, so der Sprachgebrauch der DDR, gesichtet und angeschossen/erschossen wird. Das wird wichtig, denn der Ballon verliert Fahrt und saust über die Wipfel hinunter in den Wald. Schnell wird klar, man ist zwar nahe der Grenze, aber noch im DDR-Gebiet. Was tun? Nichts wie heim und so tun, als ob nichts sei. Das klappt. Aber die Reste vom zerfetzten Ballon konnten die Rückkehrer nicht mitnehmen. Die werden gefunden, der Stasi übergeben, die nun ermittelt, wer hier gescheitert ist. Denn sicher wird es weitere Fluchtversuche geben. Und nun beginnt ein Katz- und Mausspiel, das prächtig inszeniert ist. Denn auch der Stasi, deren Oberstleutnant Seidel (Thomas Kretschmann) das Heft in die Hand nimmt, ist klar, daß man viel Stoff braucht, wenn man einen Ballon zusammennähen will. Und da Familie Strelzyk nach Berlin kommt, ist es dort auch sinnvoller, den vielenStoff – er sieht wie Taft aus – zu kaufen. Aber solche Mengen fallen auf und als die Eltern das merken, verschwinden sie lieber schnell. Aber die Stasi, die längst einen Radius um den Absturzort gezogen hatten, in dem sie die Flüchtlinge vermuten, ist schon informiert und der Zuschauer bekommt das Gefühl, daß sich der Kreis um die Flüchtlingsfamilien zusammenzieht.
Ja, die Flüchtlingsfamilien, denn beim zweiten Versuch ist Familie Wetzel wieder dabei und ihrem Kleinkind kommt im Kindergarten eine besondere Funktion zu. Auf die Frage der Kindergärtnerin, was der Vater arbeitet, sagt das Kind: „Näher“. Denn der zweite Ballon wird nun hauptsächlich im Hause der Wetzels genäht, weil dort im Keller der Zugang zur Garage den Transport der Stoffülle des Ballons überhaupt möglich macht. Denn man braucht unglaublich viel Stoff dafür. Und weil das ja in Berlin fast schiefgelaufen wäre und tatsächlich die Stasi den Stoffkauf überwacht, kommen die Vier auf die tolle Idee und kaufen in weitem Umfeld immer nur ein paar, also unverdächtige Meter Stoff. Ach so, zurück zur Kindergärtnerin. Sie wird von der Stasi befragt, ob eines der Kinder über Nähen von Stoff gesprochen habe. Und sie schweigt. Solche gab es eben in der DDR auch.
Und nun beginnt der Wettlauf mit der Zeit. Das Nähen einerseits, Besorgen von Gas, alle technokratischen Belange erledigen, während andererseits die Stasi den beiden Familien immer näher kommt. Als es dann losgeht und man verblüfft sieht, wie auf einem nicht mal 1 mm dicken Brett die vielköpfige Familie in die Luft hinaufschwebt, hat einen längst die Ästhetik des Vorgangs gepackt. So ein Heißluftballon mit den aus vielen Farben in kleinen Stücken zusammengenähtem Stoff sieht durch das Licht von innen so schön aus, daß man beim Zuschauen mit offenem Mund die farbengesättigte Leinwand betrachtet, so daß der Film vielfältig Emotionen befeuert: es bleibt spannend, wenn der Ballon 2000 Meter hoch und 28 Minuten und 18 Kilometer gen Westen treibt und wieder die Angst, die Grenze nicht zu erreichen, alle erfaßt und es ist die ästhetische Begeisterung und tiefe Freude über den Ballon. Die Flucht der vier Erwachsenen und vier Kinder, die nahe der oberfränkischen Stadt Naila/Bayern endete, konnte gelingen, weil der angekündigte Westwind kam. Und daß die Flucht zeitlich auf den 16. September vorgezogen wurde, war die Rettung beider Familien, denn die Stasi hätte noch knapp eine Woche gebraucht, um die Flüchtlinge dingfest zu machen. Das kann man heute den mehr als 2000 Seiten der Stasi-Akten entnehmen.
Übrigens hatte das spektakuläre Ereignis 1979 sofort den US-amerikanischen Konzern Disney auf den Plan gerufen, der sich die Rundherumrechte bei beiden Familien sicherte und ihn 1982 zu dem Film verarbeitete NIGHT CROSSING (Mit dem Wind nach Westen), der wie andere Disneyproduktionen um die Welt ging.
Fotos:
Kurz vor dem nächtlichen Start: Der Ballon entfaltet sich.
© Studiocanal GmbH / Marco Nagel
Die Familien Strelzyk und Wetzel starten den Ballon - Peter Strelzyk (Friedrich Mücke, l.), Doris Strelzyk (Karoline Schuch, r.) und Andreas Strelzyk (Tilman Döbler)
© Studiocanal GmbH
Info:
circa 125 Minuten
Besetzung
Peter Strelzyk Friedrich Mücke
Doris Strelzyk . Karoline Schuch
Günter Wetzel David Kross
Petra Wetzel Alicia von Rittberg
Oberstleutnant Seidel Thomas Kretschmann