Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. Oktober 2018, Teil 9
Margarete Frühling
München (Weltexpresso) - Lara (Victor Polster) ist 15 Jahre alt und hat zwei große Träume: Sie träumt von einer Karriere als Balletttänzerin und möchte endlich eine Frau werden. Bei beiden Wünschen wird sie von ihrem Vater Mathias (Arieh Worthalter) unterstützt.
Da Lara an einer renommierten Ballettschule angenommen wurde, zieht Mathias mit Lara und ihrem sechsjährigen Bruder Milo (Oliver Bodart) nach Brüssel. Lara wird zuerst nur unter Vorbehalt angenommen. Während der achtwöchigen Probezeit muss sie beweisen, dass sie den Ansprüchen der Schule gewachsen ist, denn wie eine der Lehrerinnen sagt, sind ihre Füße nicht an den Spitzentanz einer Balletttänzerin gewöhnt. Allerdings besteht sie die Probezeit und ist erst einmal für ein Jahr an der Akademie angenommen, in der sie auch zur Schule geht.
Parallel zum sehr anstrengenden Training wird Lara immer von ihrem Vater begleitet und von Ärzten und Psychologen bereut, die sie langsam auf ihre Geschlechtsangleichung vorbereiten. Zuerst bekommt sie nur Pubertätshemmer und ab ihrem 16. Geburtstag weibliche Hormone. Eine endgültige Operation kann allerdings erst mit 18 Jahren erfolgen.
Lara trainiert hart, doch stößt sie nicht nur beim Tanzen, sondern auch in ihrer Umgebung an die Grenzen ihrer Geschlechtszugehörigkeit, sei es in der Umkleidekabinen der Mädchen in der Ballettschule oder beim Versuch von Intimitäten mit einem Nachbarsjungen. Die ganze Zeit taped sich Lara ihren Penis mit Klebeband an den Körper, das führt letztendlich zu einer Entzündung. Auch das Tanzen fordert zunehmend körperlichen Tribut, denn Lara hat nicht nur regelmäßig blutige Füße, sondern nimmt immer mehr ab und verweigert auch genug zu Essen.
Eines Tages müssen die Ärzte Lara mitteilen, dass sie sich zwischen einer Karriere als Tänzerin und der Operation entscheiden muss. Sie verbieten ihr schließlich das Ballett, so dass Lara bei der Abschlussinszenierung der Schule nicht teilnehmen kann. Am Neujahrsmorgen trifft Lara dann eine folgenschwere Entscheidung, mit der sie endgültig zur Frau werden will...
"Girl" ist der erste Langfilm des 1991 geborenen belgischen Regisseurs Lukas Dhont, für den er auch zusammen mit Angelo Tijssens das Drehbuch geschrieben hat. Dhont sagte in einem Interview, dass er mit seinem Film "einen mutigen jungen Menschen porträtieren wollte, der eine Gesellschaft herausfordert, in der die biologische sowie gesellschaftliche und kulturelle Definition des Begriffs Geschlecht unweigerlich miteinander verknüpft sind".
Lukas Dhont wurde für seinen Film 2018 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der Caméra d’Or als bester Debütfilm eines Regisseurs ausgezeichnet. Auch der Hauptdarsteller Victor Polster erhielt in Cannes in der Sektion "Un Certain Regard" den Preis als bester Darsteller. "Girl" ist auch der diesjährige belgische Beitrag in der Auswahl für den Oscar als bester ausländischer Film.
Das Thema "Transgender" wurde in der letzten Zeit im mehreren Filmen behandelt, z.B. in den Oscar-prämierten Filmen "The Danish Girl" (2015) von Tom Hooper oder dem chilenischen Film "Una Mujer Fantástica" (2017) von Sebastián Lelios, der 2018 den Oscar als bester ausländischer Film gewonnen hat. Da es in "Girl" aber nicht um die Ablehnung durch die Gesellschaft geht, unterscheidet sich Dhonts Film inhaltlich deutlich von den genannten Filmen.
"Girl" zeigt den beschwerlichen Weg eines Jungen, der sich im falschen Körper fühlt und der unbedingt eine Frau werden will. Es geht hier vor allem um den inneren Kampf der Hauptfigur, da Lara - wie typisch bei Jugendlichen - das Gefühl hat, dass ihr die Zeit wegläuft und sie vieles nicht machen kann, weil sie sich nicht sicher in ihrem Körper fühlt. Denn Lara will gleichzeitig eine Frau werden und auch eine Ballerina. Dadurch setzt sie ihren eigenen Körper aufs Spiel, um Beides gleichzeitig zu erreichen.
Der Regisseur zeigt Laras inneren Kampf in ruhigen Szenen, denn sie leidet im Stillen ohne heftige oder tränenreiche Wutausbrüche. Dabei ist die Kamera von Kameramann Frank van der Enden immer nah dran an Laras Gesicht und Körper und lässt dadurch auch sehr intimen Szenen glaubhaft erscheinen.
Allerdings gibt es einige Handlungsstränge, die überflüssig sind, wie die Geschichte mit dem Nachbarsjungen, mit dem Lara versucht erste sexuelle Erfahrungen zu erleben. Auch hat der Film immer wieder Längen, z.B. wenn Lara regelmäßig in der Straßenbahn fährt oder wenn die Ballettszenen sich immer und immer wiederholen. Allerdings sollen diese Szenen wohl unterstreichen, dass es im Film vor allem auch ums Abwarten geht.
Der Hauptdarsteller, der 15jährige Victor Polster, spielt die Rolle sensationell. Er ist eine riesige Entdeckung, denn er kann nicht nur sehr gut tanzen (er ist ausgebildeter klassischer Tänzer), sondern er ist auch in der Lage Laras Kampf um eine eigenen Identität hervorragend darstellen. Polster wird dabei wundervoll von Arieh Worthalter als Laras Vater Mathias unterstützt, denn Worthalter zeigt, dass Mathias Lara zu jeder Zeit bei ihren beiden Träumen behilflich ist, dass er aber auch langsam erkennt, dass sich ihre Wünsche möglicherweise zu diesem Zeitpunkt gegenseitig ausschließen.
"Girl" ist eine kleine Filmperle. Der Film ein einfühlsames Porträt über einen starken Teenager, der sich auf den Weg zu seinem wahren Ich macht. Trotz einiger Längen ist es ein intensiver und absolut sehenswerter Film, den man nicht so schnell vergessen wird.
Foto: Victor Polster als Lara © Universum Film
Info:
Girl (Belgien, Niederlande 2018)
Originaltitel: Girl
Genre: Drama
Filmlänge: 105 Minuten
Regie: Lukas Dhont
Drehbuch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens
Darsteller: Victor Polster, Arieh Worthalter, Oliver Bodart, Tijmen Govaerts, Katelijne Damen, Valentijn Dhaenens u.a.
Verleih: Universum Film
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 18.10.2018