Bildschirmfoto 2018 10 18 um 01.02.24Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. Oktober 2018, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der Film lief als bulgarischer Beitrag auf der diesjährigen Berlinale und wenn man hinzufügt, daß fast gar nichts passiert beim täglichen Tagesablauf in der Einsamkeit des vereisten Nordens von Sibirien, dann stimmt das zwar, aber gleich wieder nicht. Denn in diesen Eiswüsten ist ein Schritt fast so bedeutend wie auf dem Mond, also jeder Schritt ein Schritt für die Menschheit, für ihr Überleben, dem wir am Beispiel des alten Ehepaares zusehen, wobei zum Schluß des Films Gattin Sedna (Feodosia Ivanova) stirbt und der ältere und erst mal gebrechlichere Ehemann Nanouk die Eiswüste verläßt und seine verstoßene Tochter in deren Diamantmine besucht.

Dieser leise Film schlägt einen in Bann. Man braucht eben nicht viel Worte, aber diese wunderbaren Bilder von einer vereisten Natur und von widrigen Lebensumständen, die Menschen ja nicht freiwillig eingegangen sind, sondern weil sie dort geboren, von nichts anderem wissen. So steht es um Sedna und Nanouk, denen wir an ihrem Lebensabend begegnen, wo ein Leben unter solchen Bedingungen noch härter ist, als es sonst schon war. Ihre Jurte hält mit den vielen Rentierfellen zwar warm und das Feuer dient nicht nur der Suppenzubereitung - die Kargheit des Essens geht einem auch an die Nieren, Fisch und Jagen sind die einzigen Lebensmittel -, sondern auch der Wärme, aber kaum tritt man hinaus, verschlägt es den Atem gleich doppelt: diese leere Eiswüste, wo das Eis konturlos in den Horizont übergeht, sieht so unschuldig, so verlassen und so unendlich schön aus, und sie ist von einer Einsamkeit umweht, die fast körperlich wehtut, wie überhaupt dieser Film, der ja eigentlich das Gemüt anspricht, dennoch körperliche Reaktionen beim Zuschauer auslöst. Man friert mit den Figuren, man leidet mit ihnen, man freut sich mit ihnen und kämpft mit ihnen gegen die Natur, die außerhalb des blauen Himmels und des Sonnenscheins ihre Tücke zeigt, wenn ein Schneesturm das Dach abdeckt und durch die Behausung fährt.

Es ist ein unaufhörliches Wiederinstandsetzen, ein Absichern, ein Dafürsorgen, was den Alltag der beiden bestimmt. Freizeit ist wenig. Hauptsächlich sind wir mit Nanouk unterwegs, darum heißt der Film wohl auch nach ihm, obwohl er ja ohne die tapfere Sedna aufgeschmissen wäre, die seiner Härte mit Geduld begegnet und auch die ist, die der Tochter die Stange hält, die in die Stadt gegangen ist, dort sogar in der Diamantmine eine technisch herausgehobene Stelle einnimmt. Aber der Vater kann ihr das Weggehen nicht verzeihen, während der Sohn mit beider Einverständnis studiert und seine Eltern zwischendurch besucht. Erst dem Presseheft entnehmen wir, daß wir in Jakutien weilen und daß die beiden Alten dem indigenen Volk der Ewenken angehören. Das sagt uns wenig, aber wenn man liest, daß dieses Jakutien etwas so groß ist wie das Festland der Europäischen Union, aber nur eine Million Einwohner hat, dann spürt man die Leere auch noch körperlich.

Der Film beginnt mit einer so ungewöhnlichen Vorstellung, daß man diese für immer im Gedächtnis behält. Mitten in der Eiseinsamkeit sitzt eine Frau und erzeugt Töne mittels einer Maultrommel. Das sind völlig eigene, ganz spezifische Töne, die durch Zungenschnalzen in die Mundhöhle hinein und hinausgeraten und den Fingern, die das auf dem Instrument hervorlocken. Schwer zu beschreiben und irritierend anzusehen und anzuhören. Wie aus einer anderen Welt. Seltsam und anrührend. Und was lyrisch beginnt, setzt sich im Film poetisch fort. Und das Rentier, das übers Eis flirrt, ist es Wirklichkeit, ein Wunschtraum, ein Traum? Oder eine Metapher über die Unschuld, die eigentlichen Bewohner des Eises. Oder einfach nur ein Rentier, das wie eine Fata Morgana erscheint?

Man kennt dies Gewollte, das Filme, die etwas Besonderes ausstrahlen sollen, an sich haben. Dieser Film zeigt das Gegenteil. Wir wissen nicht, wie der bulgarische Regisseur diese französische, deutsche und bulgarische Koproduktion zuwege brachte, also, wie ihm gelang, Irdisches so außerirdisch und Statisches so spannend darzustellen. Aber so ist es.

Foto:
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Info:
Nanouk           Mikhail Aprosimov
Sedna             Feodosia Ivanova
Ága                 Galina Tikhonova
Chena             Sergey Egorov
LKW-Fahrer    Afanasiy Kylaev