ff festivaldirektorin leena pasanen und der regisseur werner herzog bei der eroeffnung des dokumentarfilmfestivals dok leipzig Das 61. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, Teil 2/2

Kirsten Liese

Leipzig (Weltexpresso) - Ein weiteres spannendes Stück russischer Zeitgeschichte bietet Meeting Gorbachev, ein Porträt des ehemaligen sowjetischen Staatsoberhaupts Michail Gorbatschow von Werner Herzog, der diesjährige Eröffnungsfilm. Es schöpft seinen Reiz vor allem aus einer persönlichen längeren Begegnung des Filmemachers mit dem heute 87-jährigen Politiker, der darin noch einmal zu allen wichtigen Entscheidungen seiner Karriere und deren schicksalhaftem Ende nach Zusammenbruch der Sowjetunion Stellung bezieht und mit klugen Antworten Souveränität bezeugt.

Gorbatschow macht keinen Hehl daraus, dass er den Zusammenbruch der UdSSR bis heute bedauert, er hätte sie gerne demokratischer weiterregiert. Einzig irritiert an dieser lehrreichen Geschichtsstunde, dass Herzog seine Erläuterungen aus dem Off mit starkem Akzent in Englisch spricht. Da er sowieso sämtliche Auskünfte seines Protagonisten sowie ein in deutscher Sprache geführtes Interview mit Horst Teltschik, dem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater Helmut Kohls, untertitelt, hätte er auch alle Texte in seiner Muttersprache aufnehmen können. Schon im Hinblick auf seinen starken Akzent hätte das natürlicher gewirkt.

Eine kleine Rückschau in jüngere Zeitgeschichte bietet nicht zuletzt der große italienisch-französische Gewinnerfilm I had a dream , der die Goldene Taube sowie den Fipresci-Kritikerpreis und den Preis der Interreligiösen Jury gewann. Claudia Tosi schaut darin zusammen mit den ehemaligen Politikerinnen Manuela Ghizoni und Daniela DePetri auf zehn Jahre Politik zurück. Vergeblich kämpften die befreundeten Frauen – die eine im Parlament, die andere in der Region Modena- für mehr Gleichberechtigung und den Schutz für Frauen vor Gewalt. Gegen die starke, überstarke Macht Berlusconis und den Berlusconismus kamen sie nicht an, ihr Einsatz scheiterte nach dem Rücktritt des Steuerbetrügers auch an dem wachsenden Misstrauen der Italiener in Demokratie und Politik. Tosi gelingt eine allemal interessante Rückschau, die große Kinoleinwand aber hat diese Dokumentation, die als Reportage genauso gut für das Fernsehen taugt, nicht nötig. Ein bisschen sieht es mithin so aus, als wollten die Jurys diesem Film politisch Gewicht geben und ein Zeichen setzen gegen den Rechtsruck in Italien.

Dabei hat das Auswahlkuratorium dem Festival einen Bärendienst erwiesen, indem es in dieser Ausgabe einmal auffallend weniger politisch missionierte Filme ins Programm genommen hat als in den Vorjahren. So gesehen erscheint es bedauerlich, dass es in Leipzig zugeht wie auf der Berlinale, wo bekanntlich schon viel zu viele Preise aus rein politischen Gründen vergeben wurden und darüber künstlerische und ästhetische Qualitäten in den Hintergrund gerieten.

Thematisch spannten die Filmemacher einen vielfältigen Bogen um ungewöhnliche und spirituelle Orte, schwere individuelle Schicksalen, in denen es um traumatische Aufarbeitung von Krieg (No Obvious Signs) und sexuellem Missbrauch geht (The Principal Wife), Religion und belastete familiäre Beziehungen (A Sister’s Song). Und wieder andere zeigen einfach nur Alltägliches wie der österreichische Beitrag Die Tage wie das Jahr, der ein Biobauern-Paar durch die Jahreszeiten begleitet und ihre vielseitige Arbeit mit sich wiederholenden Einstellungen zeigt: Beim Melken ihrer Schafe und Ziegen, bei der Herstellung von Käse, Schur von Wolle, bei der Heuernte oder beim Vertreiben ihrer Produkte. Unzweifelhaft geht es den Tieren, denen immerhin ein Leben außerhalb des Stalls auf Weiden und Wiesen vergönnt ist, deutlich besser als den armen Kreaturen in der industriellen Massentierhaltung, die nur gezüchtet und geboren werden, um kurz danach geschlachtet zu werden. Unfreiwillig bestätigt der Film aber auch den Einwand, dass Tiere letztendlich überall ausgebeutet werden, wo sie als „Nutztiere“ herhalten müssen. Das vermittelt sich vor allem in einer Szene, in denen die Protagonisten vier Schafe erbarmungslos zum Schlachter fahren. Auch wenn Othmar Schmiderer den Anblick des Tötens erspart: Aus den Augen der Mitgeschöpfe spricht eine Angst, die nur Abgestumpfte kalt lassen dürfte. Da gingen andere Dokumentationen der vergangenen Jahre, angefangen von Forks Over Knives über Hope for all bis hin zu The End of Meat schon einige Schritte weiter, indem sie konsequent und kompromisslos für die vegane Lebensweise eintraten.

Dass nun bei einem solchen, vergleichsweise unspektakulären Film das Kino nicht ganz voll wird, mag vielleicht nicht verwundern. Aber auch bei zahlreichen anderen Produktionen des Internationalen Wettbewerbs erweckte ein halb leerer Saal nicht gerade den Eindruck, dass es auf diesem Festival ordentlich brummt. Man mag der Situation zugute halten, dass der größte Saal im Cinestar immerhin über 800 Plätze verfügt und sich Leipzig nicht mit einem A-Festival wie der Berlinale vergleichen lässt. Das täuscht allerdings nicht darüber hinweg, dass sich im Publikum überwiegend Fachbesucher fanden. Anders gesagt, nicht-akkreditierte Leipziger Kinogänger ließen sich seltener registrieren.

Aus Gesprächen mit Leipzigern in der Fußgängerzone hört man dazu heraus, dass sich viele mit der englischen Sprache schwer tun und sich abgehängt fühlen. Ihr Schulenglisch, sofern den Älteren in DDR- Zeiten überhaupt Englisch in der Schule angeboten wurde, reicht zum Verständnis der teils sehr anspruchsvollen Untertitel schlicht nicht aus. Zwar offeriert das Festival auch Handy-Apps mit deutschen Übersetzungen, aber wer will schon ständig seinen Kopf zwischen Leinwand und Handy auf und ab bewegen. Andere europäische Festivals bieten sehfreundlichere Lösungen, indem sie zusätzlich zu den englischen Untertiteln unterhalb der Leinwand elektronische in der Landessprache anbieten. Einige ältere Mitglieder der Interreligiösen Jury, die sich auf ihrem Empfang quasi dafür entschuldigten, ihre Reden lieber in Deutsch zu halten, würden es Leena Pasanen, die das Festival seit 2015 leitet und wie alle Skandinavier fließend Englisch, aber noch kein Wort Deutsch spricht, bestimmt ebenso danken.

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Festivaldirektorin Leena Pasanen und der Regisseur Werner Herzog bei der Eröffnung
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