Bildschirmfoto 2018 12 06 um 00.53.26Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Dezember 2018, Teil 13

Gaspar Noé

Paris (Weltexpresso) - CLIMAX spielt im Jahr 1996. Entsprechend wählte Gaspar Noé ausschließlich Musik aus, die es zu dieser Zeit bereits gab und teilweise zu dieser Zeit populär war. Mit Ausnahme einer Instrumentalschleife von „Angie“ von den Rolling Stones, die während der Nachernte der gemeinsamen Horrornacht zu hören ist, handelt es sich bei sämtlichen Tracks um Tanzmusik.
Eine wichtige Rolle spielen dabei Nummern von Cerrone und Giorgio Moroder, beides wichtige Pioniere europäischer Discomusik Mitte der Siebzigerjahre, einer aus Italien, der andere aus Deutschland. Nicht nur prägten sie den Sound der Musik von damals, die erstmals einer schwulen Minderheit ein popkulturelles Zuhause gab, ihr musikalischer Ansatz ist auch Grundlage für alle späteren Formen populärer Tanzmusik, von House und Techno über modernere Sounds wie French House oder Electro. Aus den Siebzigern stammt außerdem ein Discohit von Patrick Hernandez, „Born to Be Alive“. Der zunehmend größeren Bedeutung synthetischen Sounds wird der Film mit zwei Hits von Soft Cell gerecht, die Sixties-Coverversionen „Tainted Love“ und „Where Did Our Love Go“, die wichtige Hymnen der schwulen Szene ihrer Zeit waren.

Beginnend mit „Pump Up the Volume“ von M/A/R/R/S, der 1987 der erste auf Samples beruhende Popsong war, der in den Charts die Top 10 knackte, wechselt Noé musikalisch in die Zeit, die von Techno und House aus Detroit beeinflusst ist: „Electron“ von Wild Planet, „French Kiss“ von Lil Louis oder „Voices“ von Neon sind allesamt Dancefloor-Tracks aus den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, als die moderne Ravekultur zur treibenden Kraft der Jugendkultur wird. Schließlich kommt man mit einem frühen Track von Daft Punk, den Pionieren des French House, in der Gegenwart des Films an (zwei weitere Stücke stammen von Daft-Punk-Mitglied Thomas Bangalter, der bei der Auswahl der Musik beratend zur Seite stand). Aus der Rolle fällt die Wahl von „Windowlicker“ von Aphex Twin: Der verstörende Technotrack stammt aus dem Jahr 1999 – aber ganz offenbar verbeugt sich Gaspar Noé nicht nur vor der Musik des unangepassten Musikrevolutionärs, sondern auch vor dem zugehörigen Videoclip, der von Chris Cunningham inszeniert wurde und als eines der erschreckendsten Musikvideos überhaupt gilt. Die Verwandtschaft mit der Geisteshaltung und Weltsicht von CLIMAX ist offenkundig.

Und schließlich gibt es noch Experimentelles von der Avantgarde-Künstlerin Cosey Fan Tutti, die in den Siebzigerjahren zu der transgressiven Experimentalband Throbbing Gristle gehört hatte: Die Formation stellte für die damalige Musikszene in etwa das dar, was Gaspar Noé im heutigen Filmbetrieb ist: Agent provocateurs, immer bereit zum Tabubruch und der Grenzüberschreitung. Im Übrigen gehört auch Chris Carter, dessen früher Elektrotrack „Solidit“ aus dem Jahr 1980 auf dem Soundtrack vertreten ist, zu den Gründungsmitgliedern von Throbbing Gristle. Nach deren Auflösung im Jahr 1981 gründete er zusammen mit seiner Partnerin Cosey Fan Tutti das Duo Chris & Cosey.


MUSIK TROIS GYMNOPEDIES (ERIK SATIE) von GARY NUMAN
SOLIDIT von CHRIS CARTER
SUPERNATURE von CERRONE
BORN TO BE ALIVE von PATRICK HERNANDEZ
PUMP UP THE VOLUME von M/A/R/R/S
FRENCH KISS von LIL LOUIS
SUPERIOR RACE und TECHNIC 1200 von DOPPLEREFFEKT
DICKMATIZED von KIDDY SMILE
SANGRIA und WHAT TO DO von THOMAS BANGALTER
VOICES von NEON
THE ART OF STALKING von SUBURBAN KNIGHTS
ROLLIN’ & SCRATCHIN’ von DAFT PUNK
WINDOWLICKER von APHEX TWIN
ELECTRON von WILD PLANET
TAINTED LOVE / WHERE DID OUR LOVE GO von SOFT CELL
UTOPIA ME GIORGIO von GIORGIO MORODER
ANGE von ROLLING STONES
MAD von COSEY FAN TUTTI und COH



TANZ

Eine ebenso wichtige Rolle wie die Musik spielt für CLIMAX selbstverständlich der Tanz. Mehrere verschiedene moderne Stilrichtungen aus der Ballroom-Szene kommen dabei zum Einsatz. Ihre Anfänge lassen sich zurückverfolgen entweder in die schwule Discoszene der späten Siebzigerjahre, aus der in den Achtzigern in New York die subversive Ballroomkultur entsteht oder in die schwarze Hip-Hop-Kultur, in deren Mittelpunkt (neben dem Rappen und der Graffitikunst) als körperlicher Ausdruck der Breakdance und seine zahllosen Spielarten stehen. Aus diesem Umfeld stammt Hauptdarstellerin Sofia Boutella, die mittlerweile zwar auch als Schauspielerin hoch gehandelt wird, aber zunächst als Tänzerin auf sich aufmerksam machte: Ihre hochenergetischen und der Schwerkraft trotzenden Auftritte in einer Reihe von Spots für Nike gelten längst als Kult.

In den Ballrooms entsteht das Voguing, das seinen Namen von dem französischen Modemagazin bezieht und das zunächst 1989 mit Malcolm McLarens Videoclip zu „Deep in Vogue“ und im Jahr darauf mit Madonnas „Vogue“ in den Mainstream drängte – ein Tanz, der einen Auftritt auf einem Laufsteg nachstellt und diverse Posen festhält, als würde man in einem Schnappschuss verewigt werden. In den Ballrooms von Paris ist auch das Krumping ein wichtiger Tanz. Dabei handelt es sich um einen aggressiv wirkenden Freestyletanz, der vor allem von Männern getanzt wird und der sich durch das schnelle Kreisen von Armen und betontes Aufstampfen auszeichnet. Entstanden ist das Krumping zunächst als „Clowning“ in der Folge der L.A. Riots im Jahr 1992 in den schwarzen Vierteln von South Central. Zehn Jahre entwickelte sich daraus das Krumping, ein Kunstbegriff, der lautmalerisch eine Entsprechung für die kraftvollen Bewegungen darstellen soll. In Musikvideos taucht das Krumping auf u. a. in Missy Elliotts „I’m Really Hot“, „Galvanize“ von den Chemical Brothers oder auch Madonnas „Hung Up“. David LaChapelle drehte mit RIZE eine ganze Dokumentation, die sich dem Tanzstil widmet.

Waacking ist heute die weibliche Antwort auf Krumping, wobei die Anfänge dieses Stils auf die schwulen Discoclubs von Los Angeles zurückgehen, wo der Tanz zunächst als „Punking“ bezeichnet wurde. Auch hier geht es um schnell kreisende Armbewegungen, die allerdings stärker auf den Rhythmus der Musik – in den meisten Fällen Disco aus den Siebzigern – abgestimmt werden. Insgesamt wirkt der Tanz geschmeidiger und musikalischer als das Krumping. Und schließlich findet noch der in Paris äußerst populäre Electro Dance (auch bekannt als Tecktonik und Milky Way) Einzug in die Tanzszenen von CLIMAX: Der Stil geht aus dem Street Dance hervor und vereinigt unterschiedliche Stile, darunter auch Voguing, Krumping und Waacking. Zumeist wird Electro Dance zu entsprechend aufpeitschender elektronischer House-Musik oder Techno getanzt. Die französische Variante beginnt als „Tecktonik“ im Jahr 2002 und erfreut sich in Frankreich und Tunesien großer Beliebtheit.

Fotos:
© Alamode Verleih

Info:
BESETZUNG

Selva             SOFIA BOUTELLA
David            ROMAIN GUILLERMIC
Lou               SOUHEILA YACOUB
Daddy           KIDDY SMILE
Emmanuelle  CLAUDE GAJAN MAULL
Gazelle          GISELLE PALMER
Taylor            TAYLOR KASTLE
Psyche         THEA CARLA SCHOTT
Ivana            SHARLEEN TEMPLE
Eva               LEA VLAMOS
Alaia             ALAIA ALSAFIR
Rocket         KENDALL MUGLER
Riley             LAKDHAR DRIDI
Omar            ADRIEN SISSOKO
Bats              MAMADOU BATHILY
Alou              ALOU SIDIBE
Ashley          ASHLEY BISCETTE
Dom             MOUNIA NASSANGAR
Sila               TIPHANIE AU
Jennifer        SARAH BELALA
Cyborg         ALEXANDRE MOREAU
Naab            NAAB
Strauss         STRAUSS SERPENT
Tito               VINCE GALLIOT CUMANT