f schneiderinSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. Dezember 2018, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Film aus Indien? Aha, Bollywood. Ein Liebesfilm aus Indien? Haben wir doch gesagt, Bollywood! Mitnichten. Das ist schon sehr lange her, daß man einen so schlichten, wie wahren, wie das gesellschaftliche Gefüge durch wahre Liebe durcheinanderrüttelnden Film sehen konnte, wie diesen, der im Original SIR heißt, was uns so wenig wie der deutsche Filmtitel gefällt.

SIR, so lautet devot die Anrede der 19jährigen Witwe Ratna (Tillotama Shome) vom Land gegenüber dem jungen Herrn der Oberschichtfamilie, bei dem sie sich in der riesigen Stadt Mumbai als Hausmädchen verdingt hat, wobei sie froh sein kann, daß sie das in der Heimat durchsetzte und weggehen durfte. Die Familie ihres Mannes ist sehr arm und obwohl es Sitte ist, daß die Witwen bei ihren Ehemännerfamilien bleiben, war diese Familie froh, sie nicht mitdurchfüttern zu müssen. Ratna kann auch froh sein, daß ihr Herr in diesem Neubau eine moderne Wohnung bezogen hat, die nun nur noch auf die Hausherrin wartet: die Hochzeit von Ashwin (Vivek Gomber) steht bevor. Die Träume schneidert sich Ratna nicht, sondern sie träumt davon, als eine Art Modedesignerin zu arbeiten. Von Anfang an sieht man ihr Geschick im Umgang mit Stoffen, mit Schnitten, mit dem Einrichten von Zimmern etc. Sie hat ästhetische Ansprüche und sie hat das angeborene Gefühl für Proportionen und Schick. Und eine wohltuende nüchterne, undramatische Art.

Sie hat Glück mit diesem jungen Mann, dessen Verlobte sehr viel herablassender ist als er. Sie muß die überschaubare Wohnung sauberhalten, einkaufen, kochen, das war's schon, weshalb sie in ihrer kleinen Kammer viel Zeit verbringen kann. Daß Ashwin von Anfang an mit ihr auf gleicher Augenhöhe kommuniziert, kann sie nicht verstehen, lernt dann, daß er aus den USA, wo er schon ein richtiger Schriftsteller geworden war, zurückkommen mußte nach Indien, weil sein älterer Bruder gestorben war und er nun die väterlichen Geschäfte, eine Baufirma, übernehmen muß, aber auch für die ganze Familie dazu sein hat. Dazu gehört die arrangierte Hochzeit mit einer Freundin der Familie.

Und mitten hinein in das große Geschehen platzt die Bombe: die Braut hat ihn in der Nacht zuvor mit einem anderen betrogen. Also platzt auch die Hochzeit. Das tut der cleveren Braut zwar so leid, daß sie um Verzeihung bittet und alles wieder gut machen will, aber der Bräutigam ist nicht nur verletzt, sondern grundsätzlich von tiefer Traurigkeit erfaßt, daß er nicht mehr seinem Lebenstraum, dem Schreiben, folgen kann. In dieser Gemengelage erleben wir zwei junge Menschen, die ganz unterschiedlich auf ihr Leben reagieren. Ashwin ist traurig, denn er kannte ein anderes Leben, und Ratna sieht ihre Chance in der Stadt, in der sie Geld verdienen und auch sparen kann, denn dann kann ihre kleinere Schwester auf die Schule gehen, eine Ausbildung machen und zusammen mit ihr kann dann ein Modeatelier in der Stadt ihre Zukunft bedeuten. Ratna hat die nötige Energie und sprüht geradezu; der verhaltene Ashwin dagegen sieht sich mit den Ansprüchen seiner Familie konfrontiert, privat und eben durch das Familienunternehmen. Außerdem schickt es sich nicht, daß er jetzt mit der jungen Witwe unter einem Dach lebt.

Geschickt webt das Filmgeschehen die Entwicklung der jungen Ratna in kleinen Schritten. Ihre Freundin Laxmi (Geetanjali Kulkarni), die im gleichen Hochhaus als Hausangestellte arbeitet, verschafft ihr die Möglichkeit, bei einem Schneider nachmittags das Schneidern zu lernen. Ashwin war sofort einverstanden, denn oft kommt er überhaupt nicht zum Essen nach Hause, Ratna ist eindeutig unterfordert. Leider auch bei dem Schneider, der ihr nichts beibringt, sondern sie als billige Aushilfe ausbeutet. Und daß sie tatsächlich den Bettel hinschmeißt und sich in einen regulären Schneiderkurs einschreibt, was noch mehr Geld kostet, findet den Respekt ihres Sir, erst nur den Respekt, aber schon länger ruhen seine Augen wohlgefällig auf der erst auf den zweiten Blick ansehnlichen jungen Frau, die so positiv wirkt und auch von ihrer Energie anderen abgibt.

Doch die Zufriedenheit beider mit der Situation wird erst getrübt und dann massiv bekämpft von seiner Familie, die ihn nach wie vor verheiraten will, während er einfach nicht mehr erträgt, wie man mit Ratna wie mit einem Dienstboten umgeht, in den speziellen indischen Verhältnissen von Kasten, besser Klassen zudem. Er ist da viel weiter als sie, aber das ist immer so, daß derjenige, der aus einer oberen Klasse kommt, sehr viel leichter eine andere 'hochzieht', als daß es für die 'niedrig' Geborene in Frage kommt, nach Oben Ausschau zu halten. Das ist die soziologische Seite, aber wie die Regie die beiden in ganz langsamen Schritten zum erst einmal gar nicht wahrgenommenen Verliebtsein bringt und welche Kraft beginnende Liebe entfaltet, das gibt dem ganzen Film einen warmen menschlichen Ton. Zudem gibt es wirklich köstliche Szenen, wie seine Familie die potentielle Verbindung beider zerstören will und überhaupt passieren auf einmal derartig viele Dinge, daß die ganze festgefahrene Situation ins Rutschen kommt und sich die beiden...

Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, sie konnten beisammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief..heißt es im deutchen Volkslied, aber dieser Film aus dem heutigen Indien zeigt, wie man tiefe Wasser durchqueren und zueinander finden kann – ohne jeden Kitsch, aber mit viel Gefühl.

Foto:
© Verleih

Info:
Darsteller
Ratna     Tillotama Shome
Ashwin    Vivek Gomber
Laxmi     Geetanjali Kulkarni
Ashwins Vater   Rahul Vohra
Ashwins Mutter  Divya Seth Shah
Vicky     Chandrachoor  Rai