Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das ist einer der schönsten Filme der letzten Zeit, eine feinsinnige Humoreske auf unsere Warenwelt und den Kaufwahn einer entsolidarisierten Gesellschaft, in der um so stärker die Sehnsucht nach einer richtigen Familie blüht, weshalb selbst konstituierte Familienbande sehr viel stärker wirken, also das Zusammenleben auch viel familiärer abläuft, als in ‚normalen‘ Familien, so es sie gibt.
Aber das ist eine am Anfang eigentlich unzulässige Abschlußbeschreibung, denn Regisseur Hirokazu Kore-eda läßt uns ja mitdenken, mitfühlen und miterschließen. Und darum muß man den Ablauf auch genau schildern, weil der Zuschauer sich etwas denkt, was die nächste Szene verändert oder bestärkt. In diesem Film kommt es auf die Gesten an, nicht nur auf die Worte. So bekommen wir Mienenspiel und Pantomime von Vater Osamu Shibata (Lily Franky) und Sohn Shota (Jyo Kairi) mit, wie die beiden erfolgreich in einem Laden abräumen, eben Shoplifters sind, in dem der eine die Aufmerksamkeit auf sich zieht und der andere die gewünschten Produkte in den Rucksack fallen läßt. Als die beiden erfolgreich durch die kalte Nacht nach Hause schlendern, treffen sie auf ein kleines vierjähriges Mädchen, das gerne mit den beiden mitgeht.
In der Familie wird Yuri (Sasaki Miyu) von Osamas Frau Nobuyo (Ando Sakura) willkommen geheißen und auch der Großmutter Hatsue (Kiki Kilin) und deren Enkelin Aki (Matsuoka Mayu) tut die Kleine leid und so wird nach einiger Diskussion – Angst, der Entführung angeklagt zu werden, aber bei einer Entführung wird ja Geld gefordert, was sie nicht tun, sie helfen ja nur der Kleinen – beschlossen, Yuri als Familienmitglied aufzunehmen. Erst recht, als sie die Verwahrloste waschen und an ihr lauter Spuren von Schlägen finden.
Yuri zeigt sich dankbar und mit ihren kleinen Fingerchen kann sie bestimmte Tätigkeiten beim Stehlen, Klauen, Entwenden besonders gut erledigen, so daß sie sogar für ihren Lebensunterhalt selber sorgen kann. Zwar ist Shota am Anfang sehr eifersüchtig, aber er gewöhnt sich an seine Schwester und wir sind Zuschauer eines innigen, witzigen, liebevollen Zusammenlebens, wobei – das sollte man gleich sagen – die charmante und dominante Kommandozentrale bei Nobuyo liegt, die die ganze Familie im Griff hat, arbeiten geht, kocht und alle emotional ‚bedient‘, aber nicht als Hausmütterchen, sondern als selbstbewußte, sinnenfrohe Frau. Diese Familiengeschichte bringt Kore-eda einerseits leichtfüssig und schlüssig, andererseits mit Stolpersteinen (Beispiel: als eine staatliche Stelle die Wohnsituation der offiziell alleinlebenden Greisin überprüft und rasch alle Personen mitsamt ihrer Sachen die Wohnung verlassen und sofort nach dem offiziellen Besuch wiedereinziehen), die irritieren, über die man sich aber nicht lange wundern kann, weil die Geschichte ja weitergeht.
Der erste wirkliche Einschnitt ist, als im Fernsehen das Bild der kleinen Yuri gezeigt wird, die von der Mutter gesucht wird. Doch als schuldbewußt die Kleine zurückgebracht werden soll, bekommen die Ersatzeltern mit, wie der Liebhaber der Mutter diese anschreit und schlägt – sie kehren mit Yuri an der Hand um nach Hause, was der Zuschauer zufrieden registriert. Doch dann hat Osamu einen Arbeitsunfall, der alles durcheinanderwirbelt und eine Entwicklung in Gang setzt, die uns das Staunen lehrt.
Selten konnte man eine eigentlich gnadenlose Abrechnung mit der neureichen konkurrenten und kalten japanischen Gesellschaft, die unserer ähnelt, derart leichtfüßig, ja geradezu elegant und um so stärker unter die Haut gehend, sehen. Das ist Filmkunst, wie Hirokazu Kore-eda uns als Zuschauer einwickelt und in das Geschehen hineinzieht, so daß wir emotional fast Mitglied dieser Familie, dieser Familienbande werden. Gelingen kann das nur, weil er hervorragende Schauspieler hat, einschließlich der Kinder, die lange den Film tragen. Und doch, das erkennen wir erst nach und nach, hält die Rolle der Nobuyo das Ganze zusammen, der ANDO Sakura als Kraftquelle des Films phänomenal Gestalt gibt.
Fotos:
© Verleih
Info:
27. Dezember 2018 / 2 Std. 01 Min. / Drama
Von Hirokazu Kore-eda
Shibata Osamu Lily Franky
Shibata Nobuyo ANDO Sakura
Shibata Aki MATSUOKA Mayu
Shibata Hatsue KIKI Kilin
Shibata Shota JYO Kairi
Hojo Juri SASAKI Miyu
Gewinner Goldene Palme, Cannes Filmfestival 2018
Drama, Japan 2018, DCP, Farbe, 121 Min.,
Sprache: Japanisch