berl19 MS Slavic 7 kleinBERLINALE 2019. Die 69. Internationalen Filmfestspiele von Berlin vom 7.-17. Februar 2019, Teil 32

Konrad Daniel

Berlin (Weltexpresso) - Zum 49. Mal veranstaltet das Arsenal – Institut für Film und Videokunst im Rahmen der Berlinale das Forum. Das Hauptprogramm umfasst in diesem Jahr 39 Filme, darunter 31 Weltpremieren. Die diesjährigen Special Screenings werden unter dem Titel „Archival Constellations“ in einer weiteren Pressemitteilung bekannt gegeben.

Das Hauptprogramm des Forums 2019 versteht sich nicht als Bestenliste, sondern versammelt Filme, die Wagnisse eingehen, Haltung zeigen und keine Kompromisse machen. Einige schauen zurück auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, andere widmen sich dem, was kommen wird – und sind dabei doch gegenwärtig. Zahlreiche Filme der Auswahl gehen vom geschriebenen Wort aus. Sie beziehen sich auf Literatur oder arbeiten mit Briefen, Gedichten und anderen Schriften.

Aus Elfriede Jelineks Gespensterroman „Die Kinder der Toten“ wird in der Bearbeitung durch Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma der Super-8-Stummfilm Die Kinder der Toten, in dem Doppelgängerinnen, Untote, eine Nazi-Witwe, ein suizidaler Förster und eine syrische Dichterfamilie durch die Steiermark geistern – ein Heimatfilm mit Blasmusik und Home Movie Horror zugleich.

Beinahe klassisch wirkt im Vergleich dazu Rita Azevedo Gomes’ A portuguesa (The Portuguese Woman), die Verfilmung einer Novelle von Robert Musil mit prächtigen Kostümen und opulenten Bildern. Für Brüche in der Geschichte über die Emanzipation einer jungen Frau aus ihrer Einsamkeit sorgt Ingrid Caven als Bänkelsängerin.

Eine buchstäbliche Re-Lektüre von Ronald M. Schernikaus „So schön“ – schwarzer Leineneinband, rosafarbener Buchtitel – unternimmt Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli mit So Pretty, indem sie Alltag und politische Aktivitäten der West-Berliner Schwulenszene der 1980er Jahre in eine queere WG im heutigen New York überträgt und dort neu verhandelt, wie sich Liebe und Zusammensein organisieren lassen.

Auch in The Plagiarists von Peter Parlow taucht das Objekt Buch auf, hier ein Band aus dem Romanzyklus „My Struggle“ von Karl Ove Knausgård. Nach einem Besäufnis auf dem Land macht sich ein junges Paar – er Möchtegern-Regisseur, sie Möchtegern-Schriftstellerin – ausgesprochen wortreich Gedanken, was genau an dem Abend eigentlich vor sich ging. Das doppelbödige Werk lässt Film und Literatur gegeneinander antreten: Are books better than films?

Literarische Bezüge gibt es auch in A rosa azul de Novalis (The Blue Flower of Novalis), einer dokumentarischen Inszenierung von Gustavo Vinagre und Rodrigo Carneiro, bei der die Wohnung des 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo in São Paulo zur Bühne seines Lebens wird. Seine engsten Vertrauten scheinen Bücher zu sein, besonders Novalis’ Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“, aus dem er splitternackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Mit der Großaufnahme eines Gedichts beginnt MS Slavic 7 von Sofia Bohdanowicz und Deragh Campbell, der die Recherche einer Frau zum literarischen Nachlass und den Briefen ihrer Urgroßmutter zeigt, einer polnischen Dichterin, die nach Kanada emigrierte: Ein Spielfilm über die Sinnlichkeit von Schriften, ihre Beschaffenheit und Botschaft – mit dem Titel einer Bibliothekssignatur.

Entlang der Briefe Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis wiederum konstruiert Ghassan Salhab seine essayistische Collage Une rose ouverte / Warda (An Open Rose). Luxemburgs lyrische Beschreibungen der Natur, die der politischen Lage zum Trotz von Lebensfreude zeugen, sind nicht zu sehen, sondern zu hören – in deutscher und in arabischer Sprache. Verbunden mit Bildern aus dem winterlichen Berlin entsteht eine Polyfonie sich visuell und akustisch überlagernder Schichten.

Der Berliner Dokumentarist Thomas Heise kehrt mit seinem neuen Film Heimat ist ein Raum aus Zeit ins Forum zurück. Auch hier sind Briefe ein zentrales Element. Anhand von Korrespondenzen, Tagebucheinträgen und vielen anderen Dokumenten zeichnet er seine eigene Familiengeschichte über vier Generationen zwischen Wien und (Ost-)Berlin nach. Zugleich erzählt er dabei nicht weniger als die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert.

Jean-Gabriel Périot rollt ebenfalls Vergangenheit neu auf: In Nos défaites (Our Defeats) reinszeniert er mit Jugendlichen aus einem Gymnasium in Ivry-sur-Seine Momente des Streiks, Widerstands und Arbeitskampfs aus Filmen über den Mai 68. Auf die Performance folgt die Reflexion: In Befragungen zu ihren Rollen zeigt sich die Sicht der jungen Generation auf Politik und politisches Kino.

Ein weiterer bekannter Dokumentarfilmer ist mit seiner neuen Arbeit zum wiederholten Mal im Forum vertreten: Nikolaus Geyrhalter zeigt in Erde an sieben Orten – von Sacramento in Kalifornien bis zur Asse in Wolfenbüttel – wie der Mensch im Zeitalter des Anthropozän Berge versetzt und das Erdreich und in der Folge den Planeten mit Gewalt umgestaltet.

Um die ökologische Bewirtschaftung der Erde und die Kämpfe von Landarbeiter*innen ohne Boden geht es in Camila Freitas Debüt Chão (Landless), einem Beitrag aus Brasilien. Seit 2015 halten sie Teile eines Grundstücks besetzt und fordern eine Umverteilung des Landes. Mit eindrucksvollen Bildern gibt dieses Dokument eines Lebens im Widerstand Einblick in den Alltag zwischen Landarbeit und politischem Aktivismus.

Im ländlichen Brasilien ist auch der Spielfilm Querência (Homing) von Helvécio Marins Jr. angesiedelt. Nach einem Überfall gibt Marcelo seinen Job als Cowboy auf. Als Ansager bei Rodeo-Shows findet er aus seiner Melancholie heraus und zu neuem Leben. Eine spezifische Kultur und Stimmung in der brasilianischen Pampa, deren Bevölkerung sich abgehängt fühlt, tritt zutage.

Noch einen Schwerpunkt des diesjährigen Programms bilden drei essayistische Auseinandersetzungen mit dem afrikanischen Kontinent. Der ausschließlich aus Archivmaterial bestehende African Mirror von Mischa Hedinger macht anhand eines reichhaltigen Fundus an Dokumenten sichtbar, wie der Schweizer Filmemacher und Reiseschriftsteller René Gardi ab den 1950er Jahren das Afrikabild einer ganzen Generation prägte. Der Film arbeitet nicht nur Gardis koloniale Denkfiguren heraus, sondern bietet sich auch als Reflexion heutiger Projektionen auf Afrika an.

Mit einem Blick in den Spiegel endet Lemohang Jeremiah Moseses Mother, I Am Suffocating. This Is My Last Film About You., ein Abgesang des exilierten Regisseurs auf seine Heimat Lesotho. Mit mystisch-schönen Bildern in Schwarzweiß und einer rauen Off-Stimme wird die Chronik einer sich radikalisierenden Trauer nacherzählt, die sich vom persönlichen Abschied von der Mutter zur politisch bewussten Lossagung vom Mutterland steigert – ein ungewöhnliches Lamento zu einer afrikanischen Migrationsgeschichte.

In Serpentário (Serpentarius) von Carlos Conceição lässt sich ein junger Mann auf der Suche nach dem Geist seiner Mutter durch eine menschenleere afrikanische Landschaft treiben – eine fulminante Reise zwischen Zukunft und Vergangenheit, die Anleihen bei verschiedenen Filmgenres macht.

Die Filme des 49. Forums:

African Mirror von Mischa Hedinger, Schweiz – WP

Aidiyet (Belonging) von Burak Çevik, Türkei / Kanada / Frankreich – WP
Bait von Mark Jenkin, Großbritannien – WP
Breathless Animals von Lei Lei, USA – WP

Chão (Landless) von Camila Freitas, Brasilien – WP

Chun nuan hua kai (From Tomorrow on, I Will) von Ivan Marković, Wu Linfeng, Deutschland / Volksrepublik China / Serbien – WP
Demons von Daniel Hui, Singapur

El despertar de las hormigas (Hormigas) von Antonella Sudasassi Furniss, Costa Rica / Spanien – WP
Erde von Nikolaus Geyrhalter, Österreich – WP

Fern von uns von Verena Kuri, Laura Bierbrauer, Argentinien – WP

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert, Deutschland – WP

Fourteen von Dan Sallitt, USA – WP

Fukuoka von Zhang Lu, Republik Korea – WP

Heimat ist ein Raum aus Zeit von Thomas Heise, Deutschland / Österreich – WP

Kameni govornici (The Stone Speakers) von Igor Drljača, Kanada / Bosnien und Herzegowina – IP

Kimi no tori wa utaeru (And Your Bird Can Sing) von Sho Miyake, Japan – IP

Die Kinder der Toten von Kelly Copper, Pavol Liska, Österreich – WP

Lapü von César Alejandro Jaimes, Juan Pablo Polanco, Kolumbien

Malchik russkiy (A Russian Youth) von Alexander Zolotukhin, Russische Föderation – WP

Man you (Vanishing Days) von Zhu Xin, Volksrepublik China

Monștri. (Monsters.) von Marius Olteanu, Rumänien – WP

Mother, I Am Suffocating. This Is My Last Film About You. von Lemohang Jeremiah Mosese, Lesotho – WP

MS Slavic 7 von Sofia Bohdanowicz, Deragh Campbell, Kanada – WP

Nasht (Leakage) von Suzan Iravanian, Iran / Tschechische Republik – WP

Ne croyez surtout pas que je hurle (Just Don't Think I'll Scream) von Frank Beauvais, Frankreich – WP

Nos défaites (Our Defeats) von Jean-Gabriel Périot, Frankreich – WP

Olanda von Bernd Schoch, Deutschland – WP

Oufsaiyed Elkhortoum (Khartoum Offside) von Marwa Zein, Sudan / Norwegen / Dänemark – WP

The Plagiarists von Peter Parlow, USA – WP

A portuguesa (The Portuguese Woman) von Rita Azevedo Gomes, Portugal

Querência (Homing) von Helvécio Marins Jr., Brasilien / Deutschland – WP

Retrospekt von Esther Rots, Niederlande / Belgien

A rosa azul de Novalis (The Blue Flower of Novalis) von Gustavo Vinagre, Rodrigo Carneiro, Brasilien – IP

Serpentário (Serpentarius) von Carlos Conceição, Angola / Portugal – WP

So Pretty von Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli, USA / Frankreich – WP

Gli ultimi a vederli vivere (The Last to See Them) von Sara Summa, Deutschland – WP

Une rose ouverte / Warda (An Open Rose) von Ghassan Salhab, Libanon – WP

Weitermachen Sanssouci von Max Linz, Deutschland – WP

Years of Construction von Heinz Emigholz, Deutschland – WP

Foto:
Deragh Campbell. MS Slavic 7. Regie/directors: Sofia Bohdanowicz, Deragh Campbell. Foto/photo: © Lisa Pictures