BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 13
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Krass, wenn man aus dem aufgeheizten Amerika in ein stilles Dorf in Nordostanatolien versetzt wird, wo statt der redegewandten Politprofis drei Schwestern das Sagen haben, die sich zwar ihrem liebevollen, gleichwohl patriarchalischem Vater unterordnen, aber doch schon mit einem hoffenden Lächeln im Blick, ist er doch Analphabet, sie aber des Schreibens und Lesens kundig. Allerdings werden sie nie über einen derartigen Erzählschatz verfügen wie er, der jede Situation nutzt, um ein Märchen als Parabel anzubringen. Irgendwas muß ja von seiner Patriarchenrolle noch übrig bleiben.
Eigentlich passiert nichts. Was nicht stimmt. Denn bei den drei Schwestern geht es hin und her, wie das eben im richtigen Leben so ist mit dem Streiten, dem Versöhnen, der Liebe und dem Haß, der Eifersucht und dem Mitgefühl. Reyhan (Cemre Ebüzziya) ist schon 20 Jahre und hat ein Kind, Nurhan (Ece Yüksel) wird mit ihren 16 Jahren gerade vom Arzt Necati (Kubilay Tuncer) nach Hause gebracht, denn sie hatte als Kindermädchen und Haushaltshilfe dessen Sohn für sein Bettnässen geschlagen. Sie kommt also nun selbst geschlagen nach Hause, denn diese Arbeit war ihre Zukunft. So war es auch für Nurhan gewesen, auch sie war bei dem Arzt angestellt, allerdings kam sie von ihm geschwängert zurück, weshalb der Vater ihr gleich einen Ehemann besorgte, den dummen und wirklich ätzend primitiven Veysel ( Kayhan Acikgöz), dem das Kind untergeschoben wird.
Wir fahren mit Havva (Helin Kandemir), der mit 13 Jahren jüngsten Schwester, zum einsamen Haus; sie wird der Vater sofort dem Arzt als besseres Kindermädchen andienen. Eigentlich spielt alles im Inneren, also in der Familie. Aber mit Veysel, der sich um die Herde kümmern soll, kommen wir nach draußen, auch auf die umliegenden Hügel und erkennen, daß hier keine friedliche Landschaft vor uns ausgebreitet ist, sondern überall Gefahren lauern. Zwei Verbrecher streichen umher, sie töten die Besitzer von Schafherden und machen sich mit diesen davon. Unheimlich ist das alles schon. Und dann kommt der Schnee ins Spiel, der alles zudeckt, aber leider nicht neu macht.
Und hier muß es einen Exkurs geben. Denn Schnee ist ein Stichwort. So wie von der mazedonischen Regisseurin völlig zu Recht für ihre Filmgeschichte das schöne deutsche Wort ZEITGEIST bemüht wurde, so gibt es in den bisherigen 13 Wettbewerbsfilmen auch filmische Zeitgeistphänomene. Schnee gehört dazu. Er fällt am Morgen im kanadischen Beitrag, man kann unmöglich alle Filme aufzählen, aber die Schneemassen sind gewaltig und gefährlich die ganzen Tage über. Aber auch Autos spielen eine große Rolle. Bei den DREI SCHWESTERN schlittern sie über gefrorenen Schnee, alle warten auf das Auftauen im Frühjahr. Doch nicht nur optisch fallen die Autos ins Auge. Sie sind fast immer mit einem irren Geräuschpegel verbunden. So laut, so wehtuend laut wie in SYSTEMBRECHER geht es nicht immer, aber immer wieder zu. Auch die Fahrten auf den Autobahnen, die früher die Schnelligkeit und die moderne Welt symbolisieren sollen, dienen heute als Beispiel für den krankmachenden Lärm. Überhaupt wird Lärm auch in anderer Hinsicht verstärkt. Maschinengeräusche, die Klingel, alles was Krach machen kann, wird nicht nur gezeigt, sondern in heftiger Lautstärke auch in die Ohren gepflanzt.
Wald dagegen, der auch fast in jedem Film auftaucht, ist so sehr die Metapher für Natur und Unverletzlichkeit wie immer, allerdings werden in mehreren Filmen ständig die Wälder abgeholzt. Noch nie gab es so viele Filmanfänge mit dem Blick in die Natur, in die Weiten der Landschaften, von der Mongolei bis Norwegen. Überraschend tauchen auch gehäuft Schreibmaschinen auf.
Zurück zur Geschichte, die im Grunde weder Ort noch Zeit hat, gleichzeitig aber die Veränderungen der sozialen und geschlechtlichen Positionen, die im Fluß sind, dokumentiert. Denn obwohl alle drei Mädchen keine wirkliche Perspektive haben, nutzen sie ihre Möglichkeiten. Die älteste wird nach Ankara zur Tante gehen. Havva wird das neue Kindermädchen beim Arzt und Nurhan wird auf jeden Fall wieder gesund. Veysel allerdings, der nach seinem Ausbruch den Dorfältesten gegenüber, auf der Flucht war, kommt zu Reyhan zurück, bittet sie um Verzeihung wegen des Todes des Kindes, es sei ein Unfall gewesen. Sie kann dies nicht akzeptieren. Am nächsten Morgen hängt er am Baum.
Das Leben ein Fluß.
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Info:
Darsteller
Reyhan (Cemre Ebüzziya)
Nurhan (Ece Yüksel)
Havva (Helin Kandemir)
Veysel ( Kayhan Acikgöz)
Necati (Kubilay Tuncer)
Müfit Kayacan (Sevket)
Kubilay Tuncer (Necati)
Hilmi Özcelik (Dorfvorsteher)
Basak Kivilcim Ertanoglu (Hatice)