BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 12
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Eigentlich kann ich die Selbstbeschäftigung der spätestens seit dem 11.9. 2001 schwer angeschlagenen Vereinigten Staaten nicht mehr sehen und hören. Und so sehr man versteht, daß die Identitätsprobleme der US-Amerikaner eine politisch-historische Nabelschau nötig machen, so ärgerlich ist es doch, daß dies mit der filmischen Maschinerie Hollywood die ganze Welt überzieht. Wie gesagt, ärgerlich. Aber bei diesem Film mache ich eine Ausnahme. So intelligent, so bitterbös schwarz ist diese Politsatire, die ja der Wahrheit entspricht, das man sie anschauen sollte. Noch im Februar läuft VICE in deutschen Kinos an.
Dick Cheney, den Vizepräsidenten unter George W. Bush, spielt zum Wiedererkennen Christian Bale. Allerdings erkennt man nur Cheney wieder, hört seine dunkle verhangene Stimmt, obwohl der ja ein großer Schweiger war, denn zum Entscheiden braucht man keine Worte. Den Cheney erkennen wir also wieder, Christian Bale nicht. Daß er der Verwandlungskünstler unter den amerikanischen Schauspielern ist, ist bekannt und auch, wie gut die Werkstätten und die Maske heute arbeiten, um aus einem den anderen zu machen. Es ist auch bekannt, daß Bale erneut für diese Rolle extrem zunehmen mußte, aber, wenn Christian Bale dann mit seinem eigenen Haar und dem gewachsenen Bart eher schmal in der Pressekonferenz der Berlinale mit ganz anderer, seiner privaten Stimme spricht, wird man wieder irre, ob das alles stimmen kann – und kirre auch.
Aber das sind ja nur Nebenaspekte eines Aufklärungsfilms, von dem ich nicht ahnte, daß auch ich ihn nötig hatte. Und wenn es nur die Szenen wären, die im Film der US-Entscheidung, den Iran zu bombardieren, vorausgehen, der Film würde sich schon lohnen. Wir Europäer, die ja außer den Engländern mehrheitlich gegen den Irakkrieg waren, das NEIN von Gerhard Schröder gehört zu den Großtaten seiner Regierungszeit, erfahren hier die eigentlichen Beweggründe, die anderer Art sind, als es politisch transportiert wird.
Es gibt nämlich längere Szenen, die sich damit beschäftigen, warum die amerikanische Bevölkerung vor dem Irakeinsatz nicht einmütig ihre Gegner benennen konnte, sondern einerseits Bin Laden, andererseits andere Clanführer zu den Teufeln der Welt erklärten – oder hilfsweise dann den gesamten Islam als Gefährder ansah. Die Meinungsforscher hatten herausgefunden, daß der Gegner nicht klar umrissen war. Weder hatten die USA zuvor Kriege gegen Clans oder einzelne Leute geführt. Was alle kannten waren Kriege gegen andere Länder. Da ist ein klar umrissener Feind. Das kann jeder verstehen, aber die merkwürdige Gemengelage vor und nach dem 11. September war für den amerikanischen Bürger so verwirrend, daß sich die machhabenden Politiker berufen fühlten, die Verwirrung aufzulösen, die gesellschaftlichen Kräfte auf den nationalen Feind, das Land Irak zu bündeln. Die USA begannen am 20. März 2003 mit der Bombardierung auf Bagdad und Bush erklärte am 1. Mai 2003 den Krieg für siegreich beendet.
Die öffentliche Diskussion in den USA war durch Dick Cheney unterfüttert worden, Richtung Präventionskrieg und eines angeblichen Angriffs mit Massenvernichtungsmitteln, die, wie wir heute wissen, nie im Irak vorhanden waren. Ein böser Bube also dieser Dick Cheney. Wie er in seine Rolle hineinrutscht, zeigt der Film auch, der so viele Floskeln von politischen Werdegängen enthält, wie der starken Frau in seinem Rücken, bzw. an seiner Seite, die ihn moralisch durchs Leben leitet, ihm den frühen Alkoholismus austreibt (was auch das Problem von George W. Bush war) und ihn in jeder Lebenslage orientieren kann, was er mal braucht, mal von alleine in ihrer Spur läuft.
Der Film ist auch ein Heimatfilme über das ländliche Amerika seit den Siebziger Jahren, aber das entscheidende ist neben seinem Inhalt seine Machart, die nicht herkömmlichen Filmerzählungen entspricht, sondern durch Einschübe auf der Leinwand immer wieder eine Metaebene schafft,die entweder informativer Art ist oder uns einfach durch zeichnerische Skizzen zum Lachen bringt. Es werden Statistiken eingeblendet, Spruchweisheiten, Dokumentarmaterial, Fernsehaufzeichnungen... Die Leinwand ist eine Spielwiese für Hintergründiges, so skurril wie durchschlagend und informativ dazu. Eine höchst ungewöhnliche filmische Erzähltechnik.
Aus den USA hört man von Besucherstürmen, der Film selbst ist achtfach für den Oscar nominiert, Christian Bale hat schon den Golden Globe und man kann ein Lob nach dem anderen verteilen. Das wirklich Interessante ist aber, daß der privaten Person genauso Raum gegeben wird wie der politischen. Und das will etwas heißen, denn normalerweise sind solche Leute nur noch in dienstlichen Zusammenhängen existent, Charaktermasken eben, wie hier am Beispiel von Donald Rumsfeld (Steve Carrell) furchterregend vorgeführt. Privat war dieser Cheney ein anderer. Nicht nur ein aufmerksamer Ehemann, ein liebevoller Vater, solche Floskeln sind dahingesagt. Aber eine Szene wie die, als die junge Tochter den Eltern gesteht, lesbisch zu sein und in das Schweigen hinein, Cheney sagt. „Das macht nichts“ und seine Tochter umarmt, hat deshalb Bedeutung, weil länger diese Tatsache als Hinderungsgrund für seine Kandidatur als Vize gilt. Der Film zeigt also einen wirklichen Menschen, herrlich skurril ist die Machart.
Ach so, der Witz mit dem Erzähler. Nicht von schlechten Eltern. Denn von Beginn an, taucht immer so ein Mitdreißiger auf, Familienvater Kurt (Jesse Plemons) , der den Film schon kennt und uns dauernd erzählt, was er damit zu tun hat. Und dann...ach was, das sollten doch nur die erfahren, die in den Film gehen. Auf jeden Fall gibt er das i-Tüpfelchen.
Foto:
Christian Bale, Sam Rockwell
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Info:
BESETZUNG
CHRISTIAN BALE (Dick Cheney)
AMY ADAMS (Lynne Cheney)
STEVE CARELL (Donald Rumsfeld)
SAM ROCKWELL (George W. Bush)
TYLER PERRY (Colin Powell)
EDDIE MARSAN (Paul Wolfowitz)
Der Film läuft außer Konkurrenz