BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 20
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Man ist die ganze Zeit berührt. Auch wenn man noch gar nicht genau weiß, um was es geht, ist man berührt, man fühlt, daß da etwas auf der Leinwand geschieht, was mit einem selber zu tun hat, auch wenn es im China von heute mit Rückblick auf die Achtziger Jahre geschieht. Die Empathie steigert sich während der 180 Minuten, im Saal wurde reihenweise geschluchzt, die Tränen fließen leicht und wenn es keine Floskel der Berlinale bleiben soll, erleben wir hier wie das Private durch und im Film politisch wird...
„Schau nach vorne und vergiß die Vergangenheit“, gab ein chinesisches Sprichwort nach dem Ende der Kulturrevolution den Weg vor, aber eine totale Verdrängung ist immer die Wurzel von neuem Leid. Dazu muß man nicht mehr Sigmund Freud bemühen, das ist heute Allerweltsweisheit. „Es war der einzige Weg, das Denken zu befreien, die Wirtschaft zu befreien“, kommentiert das Schweigen dieser Jahre Regisseur Wang Xiaoshuai und fährt fort: „aber wenn sich die Wirtschaft so wie derzeit entwickelt, ungezügelt eben, hilft das Immer Nach Vorne Schauen nicht mehr, da wird es Zeit, daß wir das, was wir hinter uns gelassen haben, in gute Ordnung bringen. Erst dann können wir in die Zukunft schauen“, ist seine Schlußfolgerung, weshalb er vier Jahre lang an diesem Filmprojekt festhielt und damit nur noch der einzige Filmemacher aus China ist, der auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb um den Goldenen Bären dabei sein darf, weil zwei andere ihre Werke kurzfristig nicht zeigen durften, aus technischen Gründen heißt es offiziell, als Folge von Zensur inoffiziell.
Nein, wir haben keine politischen Kontakte mit China und können darum nur weitergeben, was wir hören. Aber diesen Film haben wir gesehen und sind überwältigt, mit welcher Dichte und welcher Konsequenz Leben in China uns so vor Augen kommt, als ob es unser eigenes wäre, wo doch die Umstände, die Personen, das Geschehen nichts mit uns zu tun haben. Was man vorneweg sagen kann, ist, daß es Wang Xiaoshuai gelingt, im Zuschauer Gefühle aus sich herauszuholen, von denen man nicht wußte, daß sie durch einen Film inmitten so viele Menschen überhaupt ans Licht treten wollen. Es liegt etwas dem Menschen eigenes, etwas Universelles in der Luft, besser: trägt sich auf der Leinwand zu, was durch ein Lied evoziert, dann immer wieder durch die Melodie zusammengehalten wird. Es ist eine schottische Weise, die auch hier jeder kennt und auf Deutsch lautet
Nehmt Abschied, Brüder,
ungewiß ist alle Wiederkehr,
die Zukunft in Finsternis
und macht das Herz uns schwer.
Der Himmel wölbt sich überm Land.
Ade, auf Wiederseh'n!
Wir ruhen all in Gottes Hand.
Lebt wohl, auf Wiederseh'n!
Das Lied wird Robert Burns zugeschrieben, der aber die Noten nur notierte, denn die Melodie taucht nach 1600 schon auf. Über die Pfadfinder, deren Hymne sie ist, ging das Lied um die ganze Welt und gibt diesem Film im Original seinen Titel. Dieser Hinweis ist wichtig, denn es liegt über dem Film ein Schmerz, ein Weltschmerz, ein Menschenschmerz, der gut geeignet ist, wahre Gefühle von billigem Kitsch zu scheiden. Das würde mich interessieren, ob sich jemand traut, die Grundhaltung dieses Films als Kitsch zu diffamieren und damit zu banalisieren. Es gibt Trauriges im Leben, so Trauriges, daß es den Grundtenor des ganzen Lebens bestimmt. Dieser Film zeigt, wie man damit umgehen sollte, will man nicht im Gestern verharren, sondern mit neuer Kraft weiterleben.
Aber jetzt muß die Geschichte her, die schnell erzählt ist, auch wenn der Film sie episch und poetisch vor uns über drei Generationen ausbreitet.Die große Kulturrevolution ist vorbei und die Ein-Kind-Ehe seit 1979 Gesetz. Liu Yaojun (Wang Jingchun) und seine Frau Yong Mei (Wang Liyun) leben in den 1980er Jahren am Rande eines großen Stausees, wo sie einen Reparaturladen von Bootsausstattungen betreiben. Sie sind miteinander und mit ihrem kleinen Sohn glücklich. Der ertrinkt, als der Nachbarsjunge SHEN Hao (DU Jiang), das Kind von Freunden, auf ihn aufpassen soll. Vater und Mutter werden mit diesem Trauma nicht fertig, sie ziehen in eine ferne Stadt, in der sie niemanden kennen und niemand sie. Sie haben einen Jungen adoptiert, Liu Xing (Wang Yuan), der aber – mit Freud würden wir sagen, daß der diese Ersatzkonstruktion unbewußt begreift und ablehnt – mit ihnen nicht warm wird, Schwierigkeiten macht und eines Tages verschwunden ist.
Das Paar hat ein eigenbrötlerisches Leben, denn ihr ehemaliger Freundeskreis ist zurückgeblieben und sie verharren so in einem Schwebezustand. Der Kontakt zu den alten Freunden, die steinreich geworden sind, ist abgerissen, aber da die Mutter von SHEN Hao, der Arzt geworden ist, im Sterben liegt, wünscht sie sich den Besuch von Yaojun und Mei. Beide sehen so auch ihre alte Wohnung wieder, wo alles so steht, wie sie es zurückgelassen haben. Bei der Beerdigung der alten Freundin will deren Sohn SHEN Hao sie nach Hause fahren. Dort eröffnet er ihnen die Wahrheit über den Tod des Sohnes. Er selbst, der auf ihn aufpassen sollte, hat ihn zum Wasser mitgenommen und dann sogar hineingeschubst.
Yong Mei sagt nur „Mein armer Junge“ und nimmt SHEN Hao in den Arm. Sie ahnt, welche Bürde er sein Leben lang mit sich herumtrug, er, der ein unreifes Kind war. Liu Yaojun reagiert genauso. Beide können nach über 25 Jahren nicht nur verzeihen, sondern helfen dem jungen Mann, sich selber zu vergeben. Es wird hier also das große Lied vom Vergeben gesungen, das eben den heilt, der dazu in der Lage ist. Da SHEN Hao damals selbst Kind war, zudem human. Jetzt erst können die Eltern auch zum verlassenen und überwucherten Grab des Sohnes ziehen, ihn loslassen und mit seinem Tod ihren Frieden schließen.
Als sie zurückfahren in die neue alte Heimat, erwartet sie dort ihr Adoptivsohn Liu Xing mit seiner Freundin. Es wirkt überhaupt nicht aufgesetzt, daß auch diese nach Jahren der Entfremdung ihren Frieden miteinander machen.
Das für mich Interessante sind die Gefühlsdimensionen während des 3-Stunden-Films. Wenn man sich schon wie eine Familienangehörige fühlt, weil einem das Leben dieser Leute so nahe geht, so fühlt man doch immer, daß es hier um weit mehr als eine Familie mit ihren Freunden in China geht. Es sind mit solchen Vokabeln wie Verzeihen und Vergeben unsere Alltagssituationen mitangesprochen. Und hier wird es interessant. Denn das Melodram erinnert mit existentieller Wucht an griechische Dramen, wo der Unschuldige schuldig wurde, wie Ödipus. Auf dieser Ebene ist das Vergeben und Sich Selbst Vergeben – einige Filme handeln davon, bitte lesen Sie den Artikel dazu – eine Reinigung für die Seele (Katharsis), die Jahrtausende vor Freud mit den selben psychoanalytischen Mitteln funktionierte. Völlig in Ordnung also, wenn Opfer in der Lage sind, ihren Peinigern, den Tätern zu verzeihen.
Im wirklichen Leben, und eben auch im politischen, haben wir es jedoch meist damit zu tun, daß sich die Täter selber verzeihen. Man muß also schon genau hinschauen, wer wo wem verzeiht. Für diesen Film ist die Geschichte schlüssig. Aber für China insgesamt, kann und sollte die Frage der politischen Schuld nicht generell ad acta gelegt werden, sondern so aufgearbeitet werden, damit das, was hinter den Chinesen liegt, „in Ordnung“ gebracht werden kann, woraus erst eine heile Zukunft entstehen kann.
Ein starker Film, ein Film mit emotionaler Wucht bei klarem Verstand. Für mich der Bärengewinner.
Foto:
die heile Familie
© Li Tienan / Dongchun Films