Jia Zhang-Ke
China (Weltexpresso) - Während des Schnitts meiner vorherigen Filme UNKOWN PLEASURES (2002) und STILL LIFE (2006), in denen auch Zhao Tao mitgespielt hat, habe ich die Geschichten komprimiert, indem ich einige ihrer Liebesszenen rausgeschnitten habe. Als ich mir jedoch diese Szenen wieder angeschaut habe, sind die zwei Charaktere, die sie gespielt hat, irgendwie in meinen Gedanken verschmolzen.
In meiner Vorstellung ist diese Frau in meiner Heimatstadt geboren und aufgewachsen, in einer Bergbauregion im Nordwesten Chinas. Ihr Name ist Qiao und sie hat sich in einen Typen aus dem Jianghu verliebt, einer Art Mafia-Organisation. Die Liebe und der Schmerz der beiden eröffnen die Geschichte. 2006 sind sie dann mittleren Alters und der Mann verlässt sie. Sie folgt ihm in einen anderen Teil des Landes, doch ihre Beziehung ist zerbrochen. Alles, was von diesem Moment an passiert, entspringt meiner Vorstellung.
Wenn ich mir die Figur anschaue, die Zhao Tao in UNKNOWN PLEASURES spielt, dann sehe ich Reinheit, Schlichtheit und bedingungslose Liebe. Wenn ich dann wiederum die Figur in STILL LIFE anschaue, sehe ich Komplexität, Traurigkeit und eine Fassade, die ihre wahren Gefühle versteckt. Die aus den Filmen herausgeschnittenen Szenen haben mich dazu gebracht, mir vorzustellen, was heute aus dieser Frau geworden wäre – und aus dem Mann, den sie einst liebte.
Ich habe mir den chinesischen Titel des Films JIANG HU ER NU vom letzten Projekt von Fei Mu geliehen, dem chinesischen Meister der Filmkunst der 30er und 40er Jahre. Das Drehuch von Fei Mu wurde später von Zhu Shilin verfilmt mit dem englischen Titel THE SHOW MUST GO ON. Mein Film hat zwar mit dessen Geschichte nichts zu tun, aber ich liebe den chinesischen Titel. Das chinesische Wort „Ernu“ bezeichnet Männer und Frauen, die es wagen, zu lieben und zu hassen. „Jianghu“ wiederum (wörtlich „Flüsse und Seen“, aber die Übersetzung erfasst nicht die ganze Bedeutung) beschwört eine Welt dramatischer Emotionen und reeller Gefahren. Wenn man beide Wörter zusammen nimmt, stellt man sich Menschen vor, die es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die nach der Moral von Freund- und Feindschaft, von Liebe und Hass leben.
Der chinesische Titel sagt im Prinzip fast alles. Das Paar im Film lebt am Rand der Gesellschaft, sie überleben, indem sie die orthodoxe Gesellschaftsordnung herausfordern. Ich habe mir nicht vorgenommen, sie zu verteidigen, sondern wollte eher ihr Dilemma herausstellen. Es erinnert mich in gewisser Weise an das erste Jahrzehnt meiner Karriere, als es noch riskant war, Filme zu machen, in denen man seine eigene Wahrheit und die Wahrheiten über die Gesellschaft ausdrückt. Und so habe ich mich ans Drehbuchschreiben gemacht, als ob ich über meine eigene emotionale Reise schreiben würde: meine verlorene Jugend und meine Zukunftsfantasie, zu leben, zu lieben und frei zu sein. Im ersten Teil des Films steht Jianghu für die Konflikte zwischen den rivalisierenden Gruppen der Unterwelt in Shanxi. Er zeigt auch das Krisengefühl einer älteren Generation angesichts der jüngeren. Und es ist eine Geschichte wie im Western, die in den trostlosen Landschaften und dem kalten Klima der Bergbaugegend spielt.
Der zweite Teil des Films spielt am Fluss Jangtse (auf Chinesisch „Chang Jiang“), dort, wo das Drei-SchluchtenDammbauprojekt ganze Orte zum Verschwinden bringt. Der letzte Teil bringt uns zurück nach Shanxi, von wo der männliche Protagonist Bin sich auf eine neue Reise begibt, weil er das Jianghu braucht – die Orte, die sein inneres Drama zum Leben erwecken. Dies ist auch, wohin es Qiao zieht. Es gibt einen Ort, den Qiao nie erreicht, und das ist Xinjiang in Chinas tiefstem Nordwesten. Vielleicht hat jeder einen solchen Ort, den man nie erreicht, nicht weil er zu weit weg ist, sondern weil es so hart ist, ein neues Leben zu beginnen. Wir können uns nicht von unseren emotionalen Fesseln lösen, von den Lieben, Erinnerungen und Routinen, die uns am Höhenflug hindern. Diese Bande sind wie die Schwerkraft, die uns an diesen Planeten bindet. Ich habe jetzt 48 Jahre Lebenserfahrung, und ich möchte sie nutzen, um eine Liebesgeschichte im heutigen China zu erzählen, das gewaltige und dramatische Veränderungen erlebt hat. Ich habe das Gefühl, dass ich genauso auch selbst gelebt habe – und es immer noch tue.
April 2018
Foto:
© Verleih
Info:
Qiao Zhao Tao
Bin Liao Fan
Zheng Xu
Casper Liang
Abdruck aus dem Presseheft
Wenn ich mir die Figur anschaue, die Zhao Tao in UNKNOWN PLEASURES spielt, dann sehe ich Reinheit, Schlichtheit und bedingungslose Liebe. Wenn ich dann wiederum die Figur in STILL LIFE anschaue, sehe ich Komplexität, Traurigkeit und eine Fassade, die ihre wahren Gefühle versteckt. Die aus den Filmen herausgeschnittenen Szenen haben mich dazu gebracht, mir vorzustellen, was heute aus dieser Frau geworden wäre – und aus dem Mann, den sie einst liebte.
Ich habe mir den chinesischen Titel des Films JIANG HU ER NU vom letzten Projekt von Fei Mu geliehen, dem chinesischen Meister der Filmkunst der 30er und 40er Jahre. Das Drehuch von Fei Mu wurde später von Zhu Shilin verfilmt mit dem englischen Titel THE SHOW MUST GO ON. Mein Film hat zwar mit dessen Geschichte nichts zu tun, aber ich liebe den chinesischen Titel. Das chinesische Wort „Ernu“ bezeichnet Männer und Frauen, die es wagen, zu lieben und zu hassen. „Jianghu“ wiederum (wörtlich „Flüsse und Seen“, aber die Übersetzung erfasst nicht die ganze Bedeutung) beschwört eine Welt dramatischer Emotionen und reeller Gefahren. Wenn man beide Wörter zusammen nimmt, stellt man sich Menschen vor, die es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die nach der Moral von Freund- und Feindschaft, von Liebe und Hass leben.
Der chinesische Titel sagt im Prinzip fast alles. Das Paar im Film lebt am Rand der Gesellschaft, sie überleben, indem sie die orthodoxe Gesellschaftsordnung herausfordern. Ich habe mir nicht vorgenommen, sie zu verteidigen, sondern wollte eher ihr Dilemma herausstellen. Es erinnert mich in gewisser Weise an das erste Jahrzehnt meiner Karriere, als es noch riskant war, Filme zu machen, in denen man seine eigene Wahrheit und die Wahrheiten über die Gesellschaft ausdrückt. Und so habe ich mich ans Drehbuchschreiben gemacht, als ob ich über meine eigene emotionale Reise schreiben würde: meine verlorene Jugend und meine Zukunftsfantasie, zu leben, zu lieben und frei zu sein. Im ersten Teil des Films steht Jianghu für die Konflikte zwischen den rivalisierenden Gruppen der Unterwelt in Shanxi. Er zeigt auch das Krisengefühl einer älteren Generation angesichts der jüngeren. Und es ist eine Geschichte wie im Western, die in den trostlosen Landschaften und dem kalten Klima der Bergbaugegend spielt.
Der zweite Teil des Films spielt am Fluss Jangtse (auf Chinesisch „Chang Jiang“), dort, wo das Drei-SchluchtenDammbauprojekt ganze Orte zum Verschwinden bringt. Der letzte Teil bringt uns zurück nach Shanxi, von wo der männliche Protagonist Bin sich auf eine neue Reise begibt, weil er das Jianghu braucht – die Orte, die sein inneres Drama zum Leben erwecken. Dies ist auch, wohin es Qiao zieht. Es gibt einen Ort, den Qiao nie erreicht, und das ist Xinjiang in Chinas tiefstem Nordwesten. Vielleicht hat jeder einen solchen Ort, den man nie erreicht, nicht weil er zu weit weg ist, sondern weil es so hart ist, ein neues Leben zu beginnen. Wir können uns nicht von unseren emotionalen Fesseln lösen, von den Lieben, Erinnerungen und Routinen, die uns am Höhenflug hindern. Diese Bande sind wie die Schwerkraft, die uns an diesen Planeten bindet. Ich habe jetzt 48 Jahre Lebenserfahrung, und ich möchte sie nutzen, um eine Liebesgeschichte im heutigen China zu erzählen, das gewaltige und dramatische Veränderungen erlebt hat. Ich habe das Gefühl, dass ich genauso auch selbst gelebt habe – und es immer noch tue.
April 2018
Foto:
© Verleih
Info:
Qiao Zhao Tao
Bin Liao Fan
Zheng Xu
Casper Liang
Abdruck aus dem Presseheft