Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. Februar 2019, Teil 13
N.N.
China (Weltexpresso) - Warum haben Sie sich auf Charaktere fokussiert, die aus der Jianghu-Unterwelt kommen?
Das Geheimnisvolle des Jianghu ist ein sehr wichtiger Teil der chinesischen Kultur. Viele Unterweltorganisationen formierten sich im alten China, verwurzelt in speziellen Gewerben oder Regionen. Es waren Netzwerke, die über Familienbeziehungen und lokale Clan-Zugehörigkeiten hinausgingen, der Unterschicht halfen und ihnen andere Lebensweisen eröffneten. Das verbreiteteste Symbol der Jianghu-Kultur ist General Guan Yu. Er repräsentiert Loyalität und Gerechtigkeit, die Kernwerte des Jianghu. In der Eröffnungsszene des Films kann man gut sehen, wie er als spirituelles Totem funktioniert.
Nach dem Sieg der Kommunisten im Jahr 1949 verschwand die chinesische Unterwelt nach und nach. Die Charaktere in ASCHE IST REINES WEISS sind daher nicht wie die der alten Gangs. Sie entstanden nach der „Reform- und Öffnungspolitik“ der späten 1970er Jahre, sie sind die Erben des brutalen Vermächtnisses der Kulturrevolution. Ihre Moral und ihre Rituale übernahmen sie aus den Hongkong-Gangsterfilmen der 1980er Jahre. Sie entwickelten eine eigene Art, sich gegenseitig zu helfen, um das Überleben unter all den drastischen sozialen Veränderungen, die China während der Zeit durchlief, zu sichern. Das Jianghu ist eine Welt voller Abenteuer und eine Welt einzigartiger Gefühle. Ich war schon immer an Liebesgeschichten des Jianghu interessiert, wo sich die Charaktere weder vor Liebe noch vor Hass fürchten. Die Geschichte des Films spielt in der Zeit von 2001 bis 2018, einer Epoche des enormen sozialen Umbruchs. Die traditionellen Werte und die Art und Weise, wie die Leute leben, haben sich in diesen Jahren so massiv verändert, dass man sie nicht mehr wiedererkennt. Und dennoch behält das Jianghu seine eigenen Werte und Verhaltensregeln und funktioniert auf seine Weise.
Haben sie auf reales Quellenmaterial zurückgegriffen oder ist diese Geschichte komplett fiktiv?
Sie ist fiktiv, aber basiert auf Gerüchten aus der Welt des Jianghu. Einige Details kommen von Freunden von mir.
Die erste Hälfte des Films enthält Videomaterial, das Sie vor fast 20 Jahren gedreht haben. War dieses alte Videomaterial der Ausgangspunkt für das ganze Projekt?
Ich habe 2001 meine erste digitale Videokamera bekommen und habe sie damals mitgenommen nach Datong in Shanxi. Dort habe ich auf gut Glück eine Unmenge an Material gefilmt, Leute, die ich in Fabriken sah, an Busstationen, in Bussen, in Festsälen, in Saunas oder Karaokebars, an allen möglichen Orten eben. Ich fuhr damit fort bis 2006, als ich STILL LIFE gedreht habe. Als ich kürzlich dieses alte Material wiedersah, war es mir plötzlich sehr fremd. Ich habe immer gedacht, dass Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft langsam passieren, nicht, dass sich die Sachen über Nacht verändern. Dann aber wieder dieses alte Material zu sehen, war ein Schock für mich, es hat mir klargemacht, wie plötzlich sich die Dinge verändert haben. Nur durch diese alten Videos konnte ich mich erinnern, wie die Dinge vorher aussahen.
Bevor ich das Drehbuch für ASCHE IST REINES WEISS schrieb, habe ich aus dem alten Material eine zehnminütige Dokumentation zusammengeschnitten, was wieder viele Erinnerungen lebendig werden ließ. ASCHE beginnt mit so einer Aufnahme aus einem Linienbus. Ich wollte den Film damit beginnen, weil abenteuerliche Reisen im Zentrum der Jianghu-Mythologie stehen. Die Gesichter im Bus erinnern mich an das Jianghu-Sprichwort: „Wo auch immer Menschen sind, existiert auch das Jianghu.“ Der Name Jianghu heißt wortwörtlich „Flüsse und Seen“, aber in der chinesischen Philosophie bedeutet er „andere Menschen“. Die Charaktere in der Geschichte haben mehr Leute getroffen als die meisten von uns. So musste der Film mit einem Gruppenbild beginnen.
Sie kehren im zweiten Teil des Films zum Drei-SchluchtenDamm zurück, in eine Region, die sowohl Chinas Entwicklung und Fortschritt repräsentiert als auch den Verlust der alten Gemeinden und Traditionen. Was interessiert Sie an dieser Region?
Ja, das Gebiet ist zu einem wichtigen Ort für meine Filme geworden, weil es die drastischen Veränderungen des modernen China sichtbar werden lässt und weil die eigentliche Landschaft mehr oder minder gleichgeblieben ist. Es sieht dort nach wie vor wie ein klassisches chinesisches Gemälde aus.
Der Drei-Schluchten-Damm liegt im Jangtse. Unzählige Schiffe bringen jeden Tag neue Leute her und andere wieder weg. Es gibt ein Gefühl ständiger Bewegung und des permanenten Chaos. Das Damm-Projekt hat dazu geführt, dass ein großer Teil der Bevölkerung im Gebiet umgesiedelt werden musste. Auf einer Seite also ein gigantisches staatliches Projekt, auf der anderen Seite zerbrechende Familien und Liebesbeziehungen. Die Geschichte des Films beginnt in Datong, in der Provinz Shanxi im kalten und trockenen Norden, und geht dann zum Drei-SchluchtenDamm im warmen und feuchten Südwesten. Die gewaltigen Unterschiede der verschiedenen Welten eröffneten große Möglichkeiten für den Film.
Welche Jianghu-Filme anderer Regisseure sind Ihre Vorbilder?
Von Zhang Cheh über John Woo bis hin zu Johnnie To sind viele Jianghu-Klassiker aus dem Hongkong-Kino meine alten Lieblingsfilme. In ASCHE IST REINES WEISS habe ich den Soundtrack von John Woo‘s THE KILLER verwendet, in der Szene in der Karaokebar und der Szene mit der Straßenschießerei.
Sie haben dieses Mal mit einem anderen Kameramann gearbeitet, nämlich mit Eric Gautier, der bekannt ist für seine Arbeit mit Olivier Assayas, Walter Salles und Leos Carax. Was war das Besondere an dieser Zusammenarbeit?
Ich habe seit meinem Debütfilm XIAO WU (PICKPOCKET) mit Yu Lik-Wai zusammengearbeitet, als ich jedoch in der Vorbereitung zu ASCHE IST REINES WEISS war, war er leider schon mit einem anderen Film beschäftigt. Wir sind beide gleichzeitig auf Eric Gautier gekommen. Yu spricht sehr gut Französisch und hat Eric für mich kontaktiert und nach China eingeladen, um mit mir an dem Film zu arbeiten.
Mein erstes Treffen mit Eric war in Peking. Er und Olivier Assayas steckten zu dem Zeitpunkt mitten in Dreharbeiten. Ich habe sein außergewöhnliches Talent in den Filmen von Assayas und Walter Salles gesehen und fühlte mich daher sehr geehrt, dass ich eine Chance hatte, mit ihm einen Film zu drehen.
Die erste Hürde für Eric war die Sprachbarriere, doch er überraschte mich mehrfach am Set durch seine genaue Kenntnis des Drehbuchs. Er kannte jeden Text der Schauspieler auswendig. Auch die Improvisationen verstand er sofort. Sprache war also kein Problem für uns. Nach ein paar Tagen am Set habe ich angefangen, gewagte Entscheidungen für den Ablaufplan der Szenen zu treffen. Er hat sich nie davon beeinflussen lassen. Ich bin sehr dankbar, dass ich einen Kameramann gefunden habe, der mich mit so starken Bildern unterstützen konnte.
Eric respektierte auch mein altes Bildmaterial, das ich mit einer DV-Kamera aufgenommen hatte. Wir haben uns entschieden, fünf verschiedene Kameras für den Film zu nutzen, sodass die unterschiedlichen Bildtexturen den Zeitunterschied in der Geschichte hervorheben. Wir haben für die ersten Szenen DV und dann später Digibeta und HD-Video genutzt. Für den Teil des Films am Drei-Schluchten-Damm haben wir auf 35mm gedreht. Und für das Ende des Films haben wir unsere neue REDWEAPON Kamera genommen. Eric hat es geschafft, all die unterschiedlichen Bildquellen und Bildtexturen zu verbinden.
Vier bekannte Regisseure spielen in Ihrem Film mit: Diao Yinan, Zhang Yibai, Xu Zheng und Feng Xiaogang. Wie kamen Sie darauf, Filmemacher zu casten?
Ich habe sie eingeladen, Nebenrollen zu spielen bzw. als Cameo aufzutreten. Sie alle haben bereits schauspielerische Erfahrung. Wir machen ganz verschiedene Filme, aber dieser Film hat uns zusammengebracht, wir waren mit den gleichen filmischen Aspekten konfrontiert und haben uns gegenseitig mental unterstützt. Wie Brüder in der Jianghu. Filmemachen erschien mir schon immer als eine riskante Berufswahl. Der chinesische Titel des Films lautet JIANG HU ER NU – „Die Söhne und Töchter des Jianghu“ – und das beschreibt im Prinzip uns alle, die wir Filme machen.
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© Verleih
Info:
Qiao Zhao Tao
Bin Liao Fan
Zheng Xu
Casper Liang
Abdruck aus dem Presseheft