Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. März 2019, Teil 23
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München (Weltexpresso) - DIE GOLDFISCHE packt ein Reizthema bei den Hörnern: Der Vater des Regisseurs Alireza Golafshans  hatte die letzten Jahre seines Lebens vor seinem zu frühen Tod mit einer körperlichen Behinderung zu kämpfen. Aus diesem sehr persönlichen Blickwinkel wurde ein Bewusstsein geschult, dass die wichtigste Regel ist, diesen Menschen nicht mit Mitleid zu begegnen, erklärt Justyna Muesch. Sie führt fort: „Nur wenn man dies verinnerlicht, kann man daraus auch eine Haltung entwickeln für den Umgang mit Humor. Ali weiß, welchen Ton man anschlagen darf. Mit diesem Wissen stellt er auch souverän andere Themen in den Mittelpunkt und verändert subtil den Blickwinkel des Zuschauers: beispielsweise ist die größte Behinderung der Hauptfigur Oliver zu Beginn des Films, kein WLAN zu haben. Etwas, was viel über die Wirklichkeit unserer Leistungsgesellschaft und auch deren Blick auf Menschen mit Behinderung aussagt.“

„Mein Vater war beinamputiert“, erzählt Alireza Golafshan. „Zumindest den Aspekt der körperlichen Behinderung kannte ich. Ich habe miterlebt, was diese Einschränkung für meinen Vater bedeutete, wie man angesehen und behandelt wird, weil man auf einmal anders ist.“ Vor allem aber sah er auch, dass man nach einem solchen Schicksalsschlag nicht unbedingt in ein tiefes Loch fallen muss. „Mein Vater war immer ein aktiver Mensch, und seine Behinderung hat ihn nicht aufgehalten, es weiter zu sein. Er hat die Flucht nach vorn angetreten – ein bisschen so, wie es unsere Hauptfigur Oliver im Film auch macht: Immer weitermachen, damit man nicht von seiner Situation eingeholt wird.“

Was es heißt, anders zu sein, kannte Golafshan aber auch aus ganz persönlicher Erfahrung: „Ich bin ein Migrantenkind, kam erst im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland. Ich weiß, was es heißt, als anders angesehen zu werden. Das meine ich wertfrei. Es ist weder positiv noch negativ, das macht mich nicht zu einem besseren oder schlechteren Menschen, wie auch eine Behinderung einen Menschen nicht besser oder schlechter macht. Durch die Konstellation in unserer Geschichte gelingt es uns meiner Ansicht nach, die Vorurteile und bestehenden Meinungen auszuhebeln und auf den Kopf und damit auch auf den Prüfstand zu stellen. Am besten geht das im Kino mit Lachen.“

Die Perspektive hätte indes nicht gestimmt, wenn die Hauptfigur nicht auch eine Behinderung gehabt hätte. „Das war ein wichtiger Knackpunkt, um eine Haltung für die Erzählung entwickeln zu können“, sagt der Regisseur. „Sonst wäre der Film pädagogisch geworden. Oder schlimmer noch: herablassend. Mir gefällt aber auch, dass die Geschichte dadurch insgesamt komplexer wird.“

Gleichzeitig war es den Filmemachern wichtig, alles so richtig wie möglich zu machen. Sie tauschten sich intensiv mit Beratern, Ärzten und Menschen mit Behinderung aus, die mit an Bord geholt wurden, um immer abklopfen zu können, wo man stand. „Wir haben uns dieser Perspektive gestellt“, sagt Justyna Muesch. „Immer wurde uns gespiegelt: Niemandem ist damit geholfen, Behinderte auf ein Podest zu stellen.“ Wichtig war es, authentische Charaktere zu erschaffen, nachvollziehbare Menschen, die eben auch Behinderungen haben, erklärt die Produzentin: „Unsere Figuren haben gute und schlechte Eigenschaften, Fehler, Bedürfnisse und Träume. Behinderung allein ist keine Charaktereigenschaft. Gerade die Gespräche mit Raul Krauthausen und Judyta Smykowski von den Sozialhelden, die frühzeitig das Drehbuch gelesen haben, waren hierbei von großer Hilfe für uns.“

Um auch ein Feedback von jemandem zu bekommen, der selbst durch einen Unfall querschnittgelähmt wurde, sprach die Produktion Samuel Koch an, der 2010 während der Fernsehshow „Wetten, dass... ???“ so schwer verletzt wurde, dass er seither auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die Produzentin sagt: „Wie unsere Hauptfigur wurde auch er durch einen Schicksalsschlag mitten aus seinem bisher geradlinig verlaufenden und erfolgreichen Leben gerissen. Er sagte über das Drehbuch: ,Genauso ist es.’ Und war froh, dass wir nicht die Behinderung als solche in den Mittelpunkt rückten, sondern dass wir das Publikum einladen, mit unserem wilden Haufen ein Abenteuer zu erleben und zu lachen, hielt er für sehr gelungen. Das hat uns natürlich in unserer Erzählung sehr gestärkt.“

Und Alireza Golafshan merkt an: „Filmemacher neigen dazu, sich dem Thema Behinderung mit einem Drama zu nähern. Man merkt förmlich, dass die Macher zwar das Thema interessiert, sie aber offenbar keine persönliche Erfahrung damit haben. Es wirkt akademisch. Aber Menschen mit Behinderung wollen nicht über ihre Behinderung definiert werden. Es ist ein Teil ihres Lebens, und sie müssen nicht unentwegt darüber sprechen.“

Bei seinen Recherchen für den Film stieß Golafshan auf das Magazin Ohrenkuss, das von Menschen mit Down-Syndrom geschrieben wird. „Sie sind sprachlich unterschiedlich begabt“, sagt er. „Aber oft entstehen, gerade wenn es holprig und grammatikalisch wacklig wird, die schönsten deutschen Gedichte.“ Als er mit der Redakteurin Kontakt aufnahm und ihr erzählte, dass er einen Film über Menschen mit Behinderungen machen wollte, schlug sie die Hände über den Kopf zusammen und rief: „Oh Gott, ich hoffe es geht zur Abwechslung um einen Banküberfall!“ Golafshan sagt: „Wenn es Anfragen für Filme gibt, dann soll es immer darum gehen, wie man mit Down-Syndrom lebt. Aber für die betroffenen Menschen ist das kein Thema. Es ist einfach nur ihr Leben, das sie nicht unbedingt als ein Problem ansehen. Ich wollte also keinen Film über das Thema machen. Ich habe gesagt, lass uns da
reinspringen und die Figuren ein tolles Abenteuer erleben lassen.“

Die gängigen Erwartungshaltungen werden auch bei der Figur des Rainman, gespielt von Axel Stein, über den Haufen geworfen. „Wenn man Autismus hört, denkt man sofort an den Film Rain Man. Da hat unser Rainman natürlich auch seinen Namen her, aber er ist eben ganz anders als die Figur, die Dustin Hoffman in dem Film von Barry Levinson gespielt hat. Er hat keine Inselbegabung. Er ist ein geselliger Typ, der dadurch auffällt, dass er unerschütterlich gut gelaunt und immer fröhlich zu sein scheint“. Im Zuge der Recherchen stieß Golafshan auf das Haus Bucken, ein Wohnheim der Autismus Wuppertal Pflege- und Lebensgemeinschafts gGmbH. Dort traf er auf zwei Bewohner, die zur Inspiration der Figuren Rainman und Michi wurden: „Christian, ist ein junger Mann, der genau diese Ausprägung des Autismus hat und eine unglaubliche Fröhlichkeit und Warmherzigkeit ausstrahlt. Lars hingegen ist still und in sich gekehrt.“ Zur Vorbereitung unternahmen Alireza Golafshan, Axel Stein und Jan Henrik Stahlberg eine Recherchereise zum Haus Bucken, um Christian und Lars persönlich kennen zu lernen und über die Rollen zu sprechen. Weil es eben wichtig war, auch diese Figuren so authentisch wie möglich zu zeichnen.

Früh wurde überlegt, wie man bei der Besetzung der Rollen vorgehen wollte. Natürlich kam dabei auch die Frage auf, ob man Figuren mit Behinderungen entsprechend mit Darstellern besetzen solle, die diese Behinderung ebenfalls hätten. „Darüber haben wir lange gesprochen“, erinnert sich Justyna Muesch. „Wir haben dann für jede einzelne Figur geprüft, ob das machbar wäre. Wir hätten uns zum Beispiel gut vorstellen können, für Magda eine wirklich blinde Schauspielerin zu besetzen. Dazu haben wir Laiendarstellerinnen aus ganz Deutschland gecastet. Gute Ausbildungsmöglichkeiten für Schauspieler, die blind sind, sind in Deutschland aber bislang noch selten. Gerade diese Rolle verlangte nach einer sehr erfahrenen Schauspielerin, mit einer hohen Präzision im Komödientiming.“

„Die Besetzung ist eine der letzten Etappen in der Entstehung eines Films.“, erklärt Alireza Golafshan. „Wenn man über Inklusion im Film nachdenken will, muss man schon viel früher ansetzen. Damit Minderheiten repräsentiert werden können, müssen sie selbst am kreativen Prozess beteiligt sein, und zwar mit professionellen Mitteln. Es gibt nicht nur zu wenige ausgebildete Schauspieler mit Behinderung, sondern auch zu wenige Drehbuchautoren, die wirklich aus gelebten Erfahrungen zu dem Thema schöpfen können.“

Zudem unterstreicht der Regisseur bei der Fragestellung die Kunstfreiheit: „Wenn man sich der Kritik stellt, dass Figuren mit Behinderung ausnahmslos von Menschen mit Behinderung gespielt werden sollen – was bedeutet dies noch weitergedacht? Wo will man dann die Grenze ziehen? Darf dann ein Iraner keinen Türken spielen? Warum darf Cate Blanchett Bob Dylan spielen? Dürften dann Homosexuelle Schauspieler keine Heterosexuellen spielen? Behinderung ist keine primäre Charaktereigenschaft. Ein Geschichtenerzähler sollte nicht von Figuren erzählen, die ‚einfach nur behindert‘ sind. Figuren haben viele verschiedene Facetten und eine Behinderung kann dazu gehören, sagt aber nicht wirklich was über das Innenleben aus. Schauspieler versuchen den Kern der Figur zu interpretieren und zu repräsentieren. Beim Casting geht es darum, Schauspieler zu finden, die diesen Kern mit ihrem handwerklichen Können fühlbar machen können. Eine Casterin denkt sehr viel differenzierter über Figuren nach, als nur über die Frage ‚sitzt er im Rollstuhl oder nicht?‘.“

Trotzdem, finden die Filmemacher, wäre eine inklusivere Schauspielausbildung auch eine Bereicherung für die Filmindustrie, wie man am Beispiel von Luisa Wöllisch sehen kann.

Foto:
© Verleih

Info:
DIE BESETZUNG

Oliver Overrath      TOM SCHILLING
Laura Ferber         JELLA HAASE
Rainer „Rainman“ Schnellinger AXEL STEIN
Eddy Patzke          KIDA KHODR RAMADAN
Magda Grabowski BIRGIT MINICHMAYR
Michael „Michi“ Wolter             JAN HENRIK STAHLBERG
Franzi Maier           LUISA WÖLLISCH
Julius                     KLAAS HEUFER-UMLAUF
Ingeborg Zschetzsche               MARIA HAPPEL
Olivers Mutter          JOHANNA GASTDORF
Saphira                    SIBYLLE CANONICA

Abdruck aus dem Presseheft