Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 11. April 2019, Teil 7
Redaktion
Rom (Weltexpresso) - Die kompromisslose Vision von Christo und Jeanne-Claude, wie Kunst erdacht, finanziert und umgesetzt werden sollte, hat mich immer schon fasziniert – in völliger Unabhängigkeit und mit einer einzigen Agenda: das Streben nach Freude und Schönheit. Unabhängig davon wie das Publikum sich das Aufblasen tausender bunter Ballons, die zeitgleiche Installation zahlloser gelber und blauer Schirme in Japan und Kalifornien oder die Verhüllung des Reichstags erklärt und wahrnimmt – es sind im Kern die Arbeiten von Künstlern, die ihre Träume mit noch nie dagewesener Präzision und einem einzigartigen Gespür für Ästhetik umsetzten.
In gleichen Maßen war die Ehrlichkeit des Cinema Verité der Sechzigerjahre, wie man sie in den Arbeiten von Alber und David Maysles, D.A. Pennebaker oder Richard Leacock findet, prägend für meine Vision der Möglichkeiten des Dokumentarkinos. Es waren Filme, die befreit waren von den banalen vorgefassten Meinungen, die man von Plot und Erzählung hat. Sie schlugen einen neuen Weg vor, wie man an das Erzählen von Geschichten herangehen könnte. Sie zeigten Geschichten, die sich organisch aus den Figuren entwickelten und schlugen Nutzen aus den unkontrollierbaren Ketten von Ereignissen. Man hatte das Gefühl, als würde man in Realität ertrinken.
Immer mal wieder zieht ein Dokumentarfilmemacher das große Los. Für mich war das der Moment, als ich die Gelegenheit erhielt, die beiden gerade angesprochenen Welten miteinander zu vereinen. Im Jahr 2016 erhielt ich das Angebot, einen Film über Christo und seinen künstlerischen Prozess zu machen. Die Grundlage bildeten mehr als 700 Stunden Filmaufnahmen, die von zehn verschiedenen Crews im Verlauf eines Jahres gemacht worden waren, während der Vorbereitung und Produktion von Christos jüngstem Werk, „The Floating Piers“. Das klingt nach einer Unmenge von Rohmaterial, aber so ist das nun einmal in der Christo-Welt. Er hat schon lange eine Faszination dafür, seinen Arbeitsprozess für die Nachwelt festzuhalten.
Ich habe 18 Monate lang an CHRISTO - WALKING ON WATER gearbeitet. Ich stand dabei täglich in, oftmals sehr zwanglosem, Kontakt mit dem Protagonisten, der ein paar Stockwerke über unserer Schnitteinrichtung arbeitete (in diesem Fall gleichbedeutend mit „lebte“). Diese unbearbeiteten Aufnahmen, die mir zur Verfügung standen und die ohne mein Zutun in der Vergangenheit entstanden waren, waren das Material, aus dem ich mein Porträt von Christo und seiner Arbeit formte, während ich ihn in meinen täglichen Beobachtungen und Interaktionen zu verstehen begann. Im Verlauf dieses Prozesses sichtete ich auch bereits existierende Aufnahmen, darunter YouTube-Videos und iPhone- Filme, die von Touristen und zufällig Herumstehenden gemacht wurden. Ich drehte zudem zusätzliches Material. All das fand seinen Platz im fertigen Produkt.
Christo ist eine der meistdokumentierten Persönlichkeiten unserer Zeit. Es ging also weniger um das Festhalten als vielmehr um das Formen. Für mich war das eine – befreiende – Abkehr vom Prozess meiner vorherigen Filme, wo ich vom Konzept über den Dreh bis zur Fertigstellung immer volle Kontrolle gehabt hatte. Aber darin spiegelt sich auch etwas Essenzielles über unsere Zeit wider: Information in ihrer Rohform existiert in Hülle und Fülle, die Herausforderung besteht darin, sie in eine Form zu bringen, die authentisch ist.
Was habe ich persönlich aus dieser Erfahrung mitgenommen? Für Christo ist Kunst ein Vorgang und nicht ein Endresultat. „The Floating Piers“ ist das Tüpfelchen auf dem I. Das wirklich Spannende liegt darin, sich alle Möglichkeiten vorzustellen, die Hürden der Bürokratie zu nehmen und es mit den Naturgewalten aufzunehmen. Der Filmtitel WALKING ON WATER hat dabei eine doppelte Bedeutung. Zunächst bezieht er sich natürlich auf das Erlebnis, das man bei „The Floating Piers“ hatte. Für mich steht er aber auch für mein Ziel: einen Film zu machen, der jedem Zuschauer die Möglichkeit gibt, in den Fußstapfen von Christo während des Heiligen Grals der Schöpfung zu laufen.
„I love real things! Not virtual reality. I do not know how to drive. I do not like to talk on the telephone. I have slightest idea to open the computer. I like to have a real 1 mile, 2 miles, real wind, real dry, real wet, real fear, real joy.“ Christo
Foto:
© Alamode.de
Info:
Christo - Walking on Water (Italien, USA 2018)
Genre: Dokumentation
Filmlänge: 100 Minuten
Regie: Andrey M. Paounov
Protagonisten: Christo, Vladimir Yavachev u.a.