Serie: "ATLAS" 3/8 - das Vater-Sohn-Drama im Handlanger-Milieu der Gentrifizierung - mit Rainer Bock, Albrecht Schuch, Thorsten Merten u.a. / Regie: David Nawrath
Elke Eich
Berlin (Weltexpresso) - Wie erschließen Sie die Bedeutung und die Rolle des Sohnes? Was kommt bei Walter zum Schwingen, als er ihn nach 30 Jahren als Erwachsenen neu kennenlernt?
Er sieht, dass dort, sozusagen mit seinen Genen, ein Leben geführt wurde, das so gar nicht seinem eigenen Leben entsprochen hat. Das heißt, ein Leben, das er sich selbst verwehrt hat.
Sind Sie eigentlich genauer in die Vorgeschichte eingestiegen, warum und wie es zum Bruch zwischen Walter und der Mutter seines Sohnes kam?
Wir haben keine festgelegte Geschichte über Walters Beziehung zur Mutter seines Sohnes und den Grund, warum er Besuchsverbot hatte. Man kann sich da ja alles Mögliche vorstellen. Ich glaube aber nicht, dass es aufgrund von häuslicher Gewalt war. Das kann ich mir bei dieser Figur irgendwie nicht vorstellen.
Natürlich haben wir darüber gesprochen, was die Vorgeschichte ist. Warum hat er Besuchsverbot bei diesem Kind? Letztendlich ist es aber müßig, das zu klären, und man kann da eine Setzung vornehmen, ohne in die Tiefe zu gehen. Häusliche Gewalt war es aus meiner Sicht auf keinen Fall!
Welche Elemente waren für die Entwicklung von Walters Persönlichkeit wichtig?
Sich bewusst zu machen, dass er darunter gelitten hat, das war wichtig! – Denn er hätte ja sonst auch sagen können: „Mir doch egal! Geht mir am Arsch vorbei! Du kriegst nicht mal Alimente.“ So ist er aber nicht gewesen.
Diesem früheren Leben hat er auf eine Art nachgetrauert. Deswegen hat er das Besuchsverbot ja auch überschritten, seinen Sohn im Kindergarten abgeholt und mit ihm einen schönen Tag zu verbracht. Seinen Sohn hat er ja auch nicht in dem Sinne „entzogen“, dass er mit ihm z.B. nach Marokko ausgewandert wäre. Ganz im Gegenteil: Er hat ihn wieder brav zurückgebracht, und das durchaus mit einer gewissen Naivität. Und dann ist das, was kam, ganz schiefgelaufen.
Oft bin ich auch gefragt worden, ob es glaubwürdig ist, dass er seinen Sohn nach 30 Jahren sofort erkennt.Ich glaube, das ist realistisch in der Richtung, dass er als Vater seinen Sohn erkennt, Ja! Walter hat zu Hause von seinem Sohn ein Bild als Kind, und diese grundlegenden Gesichtszüge hatte er immer präsent vor Augen gehabt. Da ist etwas, das bleibt, auch wenn sich das Gesicht natürlich verändert. Andersrum wäre das natürlich nicht realistisch: Ein Mensch, der nach seinem 5. Lebensjahr den Vater nie wiedergesehen hat, kann ihn nicht erkenne
Sie sind selbt Vater eines Sohnes! Hat das für Sie eine besondere Rolle gespielt?
Zu meinem eigenen Sohn habe ich eine extrem tiefe Verbindung und er, glaube ich, auch zu mir und zu uns als Eltern. Deswegen hat mich Walters innere Verbindung zu seinem Sohn auch so tief berührt... Dann zu wissen, dass dieses kleine Glück wieder einmal gefährdet ist, durch die ganz starke Haltung eines anderen Menschen ist hart. Sich da zu entscheiden, das Glück zu schützen, statt sich zu verpissen, macht diese Figur für mich auch so stark. Das hat, wie schon gesagt, viel mit Zivilcourage zu tun.
Zivilcourage klingt gut! Woran denken Sie bei diesem Begriff?
Gerade jetzt ist Zivilcourage so wichtig! In diesen Zeiten, wo ein Haufen Menschen sich tatsächlich traut, andere Menschen wegen ihrer politischen oder humanistischen Haltung regelrecht zu bedrohen, z.B. über das Internet. - Dass wir nicht alle permanent auf der Straße sind, ist eigentlich ein Skandal! Und ich beziehe mich selbst da total mit ein.
Durch die Greta-Bewegung ist ja nun endlich dieser Vollschlaf an deutschen Unis und an Schulen beendet, und es gibt wieder Jugendliche, auf die man schaut und sagt: „Gott sei Dank!“ Das alles ist ja Zivilcourage. Zivilcourage ist auch, im Bus im rechten Moment zu sagen: „Hören Sie jetzt sofort auf, diese dunkelhäutige Frau zu belästigen! Oder sie überhaupt nur dämlich anzugucken!“ Das machen wir nicht, oder wir machen es vielleicht zu selten. – Natürlich sollten wir uns bei solch einer Aktion nicht selbst gefährden! Ich sage also nicht, dass wir uns vor 20 angetrunkene Neonazis hinstellen sollen... Aber diese Situationen fangen im ganz, ganz Kleinen an und enden in großen Bewegungen. Und das hat auch etwas damit zu tun.
Zivilcourage ist ein Leitthema, aber es geht auch um Wiedergutmachung, das Verarbeiten eines großen Verlustes und eben die Annahme der Eigenverantwortung. Walter sagt an einer Stelle diesen Satz: „Jeder legt sich seine Lasten auf und muss sie alleine tragen.“
Deshalb passt auch der Ttel "ATLAS"! Schöner wäre natürlich, wenn man nicht immer seine große Last alleine tragen müsste.
Während wir darüber reden, kommt mir noch ein weiterer Gedanke, der für mich im Moment auch neu ist: Es geht auch um die Wiederentdeckung der eigenen Empathie! D.h., Bei jemandem, der so lebt, wie es bei ihm beschrieben ist, gibt es keine großen „Ausschläge“ in dieser Richtung. Zu entdecken, dass sich ein Gefühl wieder entwickelt, ist schön.
Es gehört zur besonderen Klugheit dieses Drehbuchs von David, dass das nicht so eine Liam-Neeson-Geschichte ist, also kein „Zack, jetzt räumen wir hier auf!“ - Ich habe Liam Neeson wirklich sehr gern, aber erwähne das, um unseren Film von diesem Genre zu unterscheiden.
Als Moussa (Anmerkung: Das junge Mitglied eines kurdischen Clans, der im Räumungstrupp der Speditionsfirma die Interessen seiner Familie vertritt) in der Szene in einem Lokal so durchdreht, sagt Walter zu seinem Chef nur: „Der Neue hat sich nicht im Griff!“ Aber er sagt nicht: „Lass die Finger von dem!“
Dass er klar Stellung bezieht und sich wirklich engagiert einbringt, entwickelt sich erst Stück, für Stück, für Stück! Bis hin zu der Entführung des Enkels. Dazu kommt es ja nicht, weil Walter Böses will, sondern um so seinen Sohn dazu zu zwingen, endlich auszuziehen. Das ist sehr klug und hat mit der Entwicklung der Figur zu tun, quasi mit dem eigenen Erkenntniswachstum.
Ich habe Walter gar nicht so wahrgenommen, dass ihm Empathie fehlt. Eher habe ich ihn als jemanden gespürt, der viel Energie darauf verwendet, seine Emotionalität in Schach zu halten. Er weiß ja von sich, dass er in extremen Situationen außer sich geraten kann und dann auch keine Grenzen mehr kennt. Aus seiner Erfahrung mit der Situation, in der er von den Polizisten gedemütigt wurde, und das dann auch noch vor seinem Kind. Um das zu vermeiden, bremst er sich aus und glaubt, seine Emotionen sozusagen „abschnüren“ zu müssen.
Als er mitbekommt, dass Moussa seinen Freund, den Gerichtsvollzieher, in der Toilette zusammenschlägt, ist er meiner Meinung nach schon auch mitfühlend, aber ratlos und handlungsunfähig. Aber was wäre die Alternative für ihn, wenn er in die Situation reinginge?
Später zeigt er wieder Konsequenz und bleibt auch bei Moussa am Ball, nachdem er abgeklärt hat, inwieweit er ihn davon abhalten kann, seinen Sohn Jan in große Bedrängnis und sogar Lebensgefahr zu bringen. Die weiteren Ereignisse ergeben sich folgerichtig dann daraus.
Andererseits: Jan hat ja interessanterweise auch dieses Vehemente und Aggressive, das in Walter schlummert. Und das wird zunehmend erfahrbar. Ich will aber damit nicht in Richtung genetischer Veranlagungen argumentieren, die fatalistischerweise so bleiben, wie sie einmal sind.
(Ein nicht überzeugtes) Jaaaa!? Wie Sie das beschreiben, ist vollkommen richtig und wunderbar beobachtet. Ich glaube trotzdem, dass ihm da was fehlt. Er hat zum Beispiel keinen richtigen Freund. Diese Beziehung zu dem Gerichtsvollzieher, gespielt von Thorsten Merten, das ist eine derart verkrampfte Männerfreundschaft, dass man nur denkt: „Ist das arm!“
Walter hat niemanden! Das meine ich mit Empathielosigkeit. Ich weiß nicht, was da mit Gefühlen ist. Alleine schon, wie seine Wohnung aussieht! Übrigens ist eines meiner Lieblingsbilder, wenn Walter dann abhaut und die Kamera langsam aus der Wohnung rausfährt und dabei nochmal diese armselige Nußbaum-Schrankwand und den Ständer mit dem Gewicht zeigt. Gott! (lacht) Das war jetzt tatsächlich fast 30 Jahre lang seine Behausung!? Von großer Liebesfähigkeit zu den Dingen und zu sich selbst zeugt das jedenfalls nicht!
Und in dem Moment, wo er seinem Sohn wieder begegnet – und das passiert ja nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung, weil er ihn z.B. gesucht hätte - kommt es bei ihm zu einer emotionalen Entscheidung. Walter kommt in einen Gefühlsbereich, den er, wie sie ganz richtig sagen, sonst in Schach hält, damit ihm die Emotionen nicht außer Kontrolle geraten. Dass es dann doch außer Kontrolle gerät, ist ja eigentlich großartig! Er geht alle Risiken ein und nimmt sie auf sich - Scheiß die Wand an, was passiert!
Übrigens hatte ich beim Zugucken der Filmszene, in der er auf dem Weg ist von der Bushaltestelle bis dahin, wo er niedergeschossen wird, das Gefühl: „Der weiß schon, dass da gleich was passiert. Und es ist im Scheiß egal!“ Interessanterweise, hatte ich dieses Gefühl als Figur beim Dreh dieser Szene aber gar nicht. (lacht)
Das Zusammenspiel von Ihnen mit Albrecht Schuch, einem der besten Schauspieler seiner Generation, war sehr berührend.
Es war ein großes Vergnügen, mit Albrecht Schuch zu spielen, und das war auch schon beim Casting so. Ich hatte gehofft, dass er die Rolle übernimmt.
Was macht für Sie die besondere Qualität von Albrecht Schuch aus?
Albrecht kann sich wahnsinnig toll in seine Figuren hineinversetzen, kann sie mit einer unglaublichen Energie, Charisma und mit einer beeindruckenden Gefühlspalette versehen. Und dabei wirkt er dabei trotzdem immer sehr authentisch. Ich mag ihn irrsinnig gerne.
Sie endlich in einer absolut tragenden Rolle zu erleben, war auch toll.
Die Verantwortung zu übernehmen im Sinne von: „Okay, ich trage jetzt diesen Film, also bin ich auch in gewisser Weise dieser Film!“ - ist keine unwesentliche Bürde! Ich glaube aber, das wäre für jeden so. Diese Haupt- und Nebenrollen-Diskussion bin ich aber, ehrlich gesagt, total müde. Die wird auch nicht von mir geführt, sondern sie wird mir aufgezwungen.
Viel wichtiger ist, dass die Zusammenarbeit mit dem David (Anmerkung: Regisseur Nawrath) einfach so großartig war, weil die Zurückgenommenheit dieser Figur für mich am Anfang nicht so ganz leicht war.
FORTSETZUNG
Serie: "ATLAS" 4/8 - 8/8 Interviews mit Hauptdarsteller Rainer Bock UND Regisseur David Nawrath
Fortsetzung des Interviews mit Rainer Bock / "ATLAS" 4/8: https://weltexpresso.de/index.php/kino?view=form&layout=edit&a_id=15914&catid=79&return=aHR0cHM6Ly93ZWx0ZXhwcmVzc28uZGUv
FOTOS
1) Jan (Albrecht Schuch), Walter (Rainer Bock), Julia (Nina Gummich) und Karl (Johannes Gevers) Walter inkognito! mit seinem Sohn und dessen Familie beim Abendessen zusammen, nachdem er ihn bei einem tätlichen Angriff auf der Straße geschützt hat.
© 235 Film, Tobias von dem Borne
INFO
ATLAS
100 Minuten
FSK-Freigabe "Freigegeben ab zwölf Jahren"
Regie
David Nawrath
Darsteller
Rainer Bock (Jan), Albrecht Schuch (Jan), Thorsten Merten (Alfred), Uwe Preuss (Roland),
Roman Kanonik (Moussa), Nina Gummich (Julia)
Drehbuch
David Nawrath, Paul Salisbury
Musik
Enis Rotthoff
Kamera
Tobias von dem Borne
Schnitt
Stefan Oliveira-Pita
Casting
Silke Koch
Produktion
23/5 Film - Britta Knöller, Hans-Christian Schmid
Verleih
Pandora Film