Serie: "ATLAS" - das Vater-Sohn-Drama im Handlanger-Milieu der atlas artwork kinoplakat din a3Gentrifizierung - mit Rainer Bock, Albrecht Schuch u.a./ Regie: David Nawrath 7/ 8

Elke Eich

Berlin (Weltexpresso) - Was hat es mit der Scham aus Ihrer Sicht genauer auf sich?

Jemand hat mal gesagt: „Die Scham und Kriege, das sind die größten Probleme unserer Zeit!“ Und ich finde, da ist was dran. Es bräuchte eigentlich nicht viel, damit die beide, also Vater und Sohn, in Kontakt miteinander treten oder sich finden, aber die Scham verhindert das. Keiner weiß eigentlich so richtig, warum. Trotzdem kann jeder das irgendwo empfinden und nachfühlen.


Jeder kennt dieses Gefühl der Scham. Wir kennen das: Je länger man nicht darüber spricht, desto höher ist dann die Barriere, nicht drüber zu gehen.

Uns hat fasziniert, das an einer Figur ganz präzise durch zu deklinieren und zu gucken, wohin oder wie weit das jemanden bringen kann. In welches Leben es jemanden drängen kann, wenn er Scham empfindet für das, was er getan hat. Bei einer Figur mit einem anderen Charakter wäre es gar nicht so weit gekommen. Sie hätte darüber geredet und die Dinge geklärt. Aber Walter hat sich komplett zurückgezogen und ist quasi in eine Klausur gegangen.

 

Dem Thema Scham widmet sich übrigens die US-Professorin Brenae Brown sehr intensiv. Von ihr gibt es auf YouTube Vorträge die millionenfach angeklickt werden. Browns Haupt-Forschungsgebiet ist das Zusammenspiel von Scham, Würde und Verletzbarkeit.

Die Würde ist auch ein ganz wichtiges Thema in ihrem Film. Walter hat sich ja in seiner Würde angegriffen gefühlt von den Polizisten, und dann kam zeitgleich die Scham vor seinem Sohn dazu, dass ihm das passiert ist. Deshalb ist er ausgerastet und hat die beiden Polizisten zusammengeschlagen.

Über Scham und Angriff der Würde lassen sich Menschen auch sehr leicht manipulieren, bzw. in Schach halten oder sogar regelrecht unterdrücken. Weil die Menschen in dem Moment, wo sie sich schämen, nicht sagen wollen und können oder wollen, was los ist. Nicht zeigen, dass sie schwach waren oder etwas nicht geschafft haben. So greifen dann auch Tabus.

Wenn sie vielleicht selbst auch noch aus Ihrem Stoff heraus etwas sagen könnten über die Scham in der Wechselwirkung mit der Würde, beziehungsweise dem Angriff auf die Würde.

Sie haben es eigentlich schon gesagt: Die Scham ist geknüpft an ein Gefühl von Würde. Letztendlich haben wir hier mit Walter ja jemanden, der gar nicht für sich selbst eintritt. Man sieht ihn auch in einer Situation, in der einem Freund von ihm sehr weh getan wird, und er greift nicht ein. Er verhält sich stattdessen wie ein Unbeteiligter!

Man fragt sich: Hat der überhaupt noch so etwas wie ein Selbstwertgefühl? Was muss passieren, damit so etwas bei ihm wieder zu Tage tritt? Eine Frage, die sich der Film auch stellt: Kann Walter sich so etwas wie Würde bewahren?

 

In der Szene mit seinem Freund, der zusammengeschlagen wird, zeigt sich Walter unbeteiligt. Trotzdem bin ich eigentlich der Meinung, dass die Empathie bei ihm nie ganz weg war, sondern, dass er sie eher unterdrückt hat, um sich zu schützen. Diesen Schutz, den er meint zu brauchen, weil er durch die Erfahrung mit seiner lang zurückliegenden Auseinandersetzung mit den Polizisten weiß, wie er in letzter Konsequenz die Kontrolle verlieren kann, sobald er emotional tief betroffen ist.

Ja. Er hat die Erfahrung gemacht: Es ist besser, wenn ich mich jeglicher Entscheidung entziehe. Wenn ich quasi so wenige Entscheidungen wie möglich für mein Leben treffe.

Für mich war Walter wie ein Meteorit, der völlig berührungslos und unsichtbar durchs Weltall fliegt, mit niemandem in Kontakt kommt und nicht gesehen wird. Ein Meteorit absorbiert ja eher, und den sieht man nicht, wenn der angestrahlt wird. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo er in die Atmosphäre eintaucht und anfängt zu glühen, weil der Druck einfach so groß wird. Dann ist er gezwungen sich zu zeigen.

Wir tauchen in Walters Leben in der Phase ein, wo er in die Atmosphäre eintritt. Nach 30 Jahren, in denen er unsichtbar war und während derer er sich aus allem herausgehalten hat, für niemanden eingetreten ist, nicht mal für sich selbst. Was ihn zum perfekten Schlepper macht, der Wohnungen von Menschen nach einer Räumungsbescheid ausräumt.

 

Es wirkt so, als wäre er in diesen 30 Jahren in gewisser Weise ein Neutrum gewesen. So sehr Neutrum, dass man sogar kaum von Einsamkeit in seiner eng umzirkelten, kleinen Welt sprechen kann. Und dann gibt es auf einmal Hoffnung auf eine Veränderung und Erfüllung einer verschollenen Sehnsucht..,

Wenn man 30 Jahre lang so gelebt, bzw. „verlebt“ hat, d.h. an seinem Leben vorbei gelebt hat, weil man sich nicht wirklich dafür entschieden hat, dann kommt natürlich die Frage: Bringt es überhaupt noch was, daran etwas zu ändern?

Aber es ist halt nie zu spät. Das ist nicht nur eine Floskel, sondern das ist wirklich so. Ich glaube ganz fest daran, dass es nie zu spät ist. Selbst, wenn man noch mit 80 auf die Idee kommt, sein Leben zu verändern: Da kommt immer noch Lebenszeit!

 

Welche Rolle spielt dramaturgisch Walters Kollegenumfeld? atlas stills 02

Wir haben einen ganz Männer lastigen Film - mit Männern, die alle nicht miteinander reden und nicht richtig über Gefühle sprechen können. Nur, wenn sie halt besoffen sind, dann kommt es raus. Danach sind die Gefühle gleich wieder gedeckelt. Und trotzdem hat das etwas ganz Rührendes. Denn, wenn man genauer hinschaut, versuchen Sie für einander da zu sein, wenn auch auf ganz klägliche Weise.

Ich denke z.B. an die Generation meines Vaters. Die ist voll mit Männern, die nie gelernt haben, über ihre Gefühle zu sprechen. Sobald man diesen Punkt bei ihnen drückt, wo es ums Innere geht, machen sie sich total zu. Und das wollte ich ganz konsequent ins Licht rücken. Diese Männer, die irgendwie stark sind, aber eigentlich so zerbrechlich und schwach sind, fand ich ganz rührend.

 

In Ihrem, wie Sie sagen, „Männer lastigen“ Film gibt es eine Frau: Julia, die mit Walters Sohn Jan verheiratet ist.

Julia ist die einzige Figur im Film, die nicht vermeidet, über ihre Gefühle zu sprechen. Für mich war immer klar: Wenn die Tür aufgeht, und sie dasteht, wird sie wie ein warmer Lichtschwall über diese kalte Männerwelt kommen. Sie ist auch, wenn man so will, die einzig richtig gute Figur im Film, die fast etwas Engelgleiches hat. Sie versucht, in Menschen hinein zu schauen.

 

Julia, die mit Nina Gummich ausgezeichnet besetzt ist, blickt auch als einzige Person wirklich hinter Walters Fassade und zeigt ihm gegenüber tiefe Wertschätzung. Ist sie eine Erlöserin?

Es war ganz toll, mit Nina zu arbeiten! Julia steht für ein Versprechen von einer besseren Welt.

 

Wir haben jetzt sehr viel über Scham, Schuld, Spürbarkeit der eigenen Existenz und Gesehen-Werden gesprochen. Aber es geht eigentlich in Ihrem Film doch auch um den tieferen Sinn der menschlichen Existenz. Durch die Wiederbegegnung mit seinem Sohn Jan kommt wieder ein Sinn in Walters Leben. Wer Kinder hat, weiß, wie sie dem Leben völlig neue Perspektiven geben. Wie hat Ihre Vaterschaft Sie verändert?

atlas stills 04Als ich Vater wurde, war das für mich so, als wäre das Zentrum der Welt von mir auf einen anderen Menschen übergegangen. Das trifft es eigentlich für mich am meisten. Wenn man plötzlich nicht mehr selbst im Zentrum der Welt ist, sondern ein anderer Mensch! Und wenn man sich dann plötzlich die Frage stellt: O.k.! Und was ist das wert? Was ist der Sinn des Lebens?

 

 

Und welchen Sinn des Lebens haben Sie entdeckt? Was bringt der Film diesbezüglich in die Welt?

Intuitiv sträube ich mich gerade gegen eine Antwort. Wenn „Atlas“ einem mitgeben kann, dass man für einen Moment dieses Chaos ganz kurz geordnet sieht, dann hat der Film einen Wert.

 

Rainer Bock - als Walter in der Hauptrolle gegen den Strich besetzt - und der hervorragende Cast um ihn herum: Albrecht Schuch, Nina Gummich, Thorsten Merten, Uwe Preuss und Roman Konanik...
Wie lief das Besetzungsprozedere ab?

Wir haben erst mal die Rolle von Walter besetzt. Das war auch ein sehr langer Prozess. Es hätte ja auch ein Laien-Film werden können. Dann wäre die Hauptfigur ein Laie gewesen und man hätte entsprechend einen Cast drum herum gefunden.

Erst, als wir Rainer Bock als Walter hatten, konnten wir quasi alle anderen Figuren entblättern. Mit seinem Gesicht und seiner Art zu spielen setzte sich ja die Tonalität fest. D.h., damit, dass wir Rainer gefunden haben, war schon viel vorgegeben.

 

Sie haben ja auch deshalb nach Laien Ausschau gehalten, weil Sie erst keinen physisch passenden Profischauspieler in dem Alter fanden.

Genau! Wir haben tatsächlich lange nach Laien gesucht. Ich habe mir lange ein völlig unbekanntes Gesicht gewünscht. Lustiger Weise habe ich das mit Rainer irgendwie sogar gefunden, einfach, weil er nie so eine Rolle gespielt hat und man ihn in solch einer Rolle auch nicht erwarten würde. Er war eine totale Entdeckung für uns und für viele andere auch.

 

Rainer Bock ist ja alles andere, als ein Möbelpacker- oder Schlepper-Typ. Er selbst hielt sich sogar für eine „klassische Fehlbesetzung“. Was hat Sie an ihm beim Casting für diese Rolle so sicher sein lassen, dass er der Richtige ist?

Ich habe mir viele, viele Männer in dem Alter angeguckt und sie gecastet. Die sind gekommen und haben gespielt. Als Rainer kam, hat es nicht 30 Sekunden gedauert, und ich wusste: Er ist es!
Er hat es gespielt. Er hat es gesprochen. Und ich habe gemerkt: Er fühlt den Walter so sehr! Er fühlt den besser, als ich. Und da war es klar, dass er es ist.atlas stills 06

 

Walters Sohn Jan wird von Albrecht Schuch dargestellt - einer der herausragenden Schauspieler seiner Generation. Welche seiner Qualitäten im Zusammenspiel mit Rainer Bock haben Sie überzeugt?

Die Figur von Jan ist keine einfache. Es ist schwer der Figur die richtige Temperatur zu geben, den richtigen Ton bei ihr zu treffen. Ich wüsste nicht, wer es sonst vermocht hätte, Jan soviel Leben einzuhauchen. Ich finde, dass Albrecht einfach so vieles mitbringt. Es gibt so viele Facetten und Schattierungen in seinem Spiel. Und: Ich schaue Albrecht unglaublich gerne zu.

 

Dann sehen wir Thorsten Merten als Gerichtsvollzieher und Uwe Preuss in der Rolle des Chefs der Schlepper-Truppe. Was hat die beiden für ihre Rollen prädestiniert?
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Thorsten Merten und Uwe Preuss sind echte Typen, haben was ganz Ehrliches und so eine echte Sprache. Um dem Film möglichst das Künstliche zu nehmen und es so ehrlich wie möglich zu machen, brauchte ich genau solche Schauspieler. atlas stills 08Manche Schauspieler haben im Vergleich dazu oft etwas Verkünsteltes, was für manche Filme durchaus funktioniert. Das hätte hier aber nicht gepasst.

 

Auch Roman Kanonik in der Rolle von Moussa, der als Vertreter des Kurden-Clans in die Gruppe der Möbelpacker mit eingebunden wird, überzeugt. Er wurde als Deutsch-Russe in Sibirien geboren. Wie sind Sie auf ihn aufmerksam geworden?
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Ich kenne Roman noch aus seiner Zeit an der UDK. Damals habe ich ihn auf der Bühne gesehen und dachte mir, es wäre spannend, mal mit ihm zusammenarbeiten zu können. Aber eigentlich hat ihn mir Silke Koch wieder ins Gedächtnis gerufen.

 

Sie haben in Frankfurt und nicht in Berlin gedreht. Welche Bedeutung hat der Drehort?

Es war wichtig, dass es eine deutsche Großstadt ist. Wir hatten für Berlin geschrieben, weil ich Berliner bin, hier geboren und aufgewachsen bin. Und beim Schreiben hatte ich alle Drehorte schon im Kopf. Aber ich wollte keinen Berlin-Film machen.

„Atlas“ erzählt eine universelle Geschichte, und ich wollte einfach, dass es universell bleibt. Ich selbst falle ja immer wieder aus Filmen und deren Handlung heraus, wenn ich Orte wiedererkenne. Das geht mir auch so bei Gastauftritten von sehr bekannten Schauspielern: Man fällt einfach leicht aus der Geschichte raus. Das hätte ich schade gefunden, und deshalb wollte ich eigentlich eine anonyme Stadt. In Berlin geht das. In Frankfurt geht es noch besser, weil die Stadt in Filmen nicht so „verbrannt“ ist: Es wird dort ja nicht so viel gedreht, wie in Berlin.

 

Wie war es denn für Sie im filmisch „nicht so verbrannten“ Frankfurt?

Als klar war, dass wir in Frankfurt drehen werden, war es für mich schön, mit meinem Kameramann die Stadt und die Orte ganz neu zu entdecken. Wir haben uns Fahrräder genommen, sind damit tagelang herumgefahren und haben uns einfach alles angeguckt.

Das Markante an Frankfurt ist auch: Die Stadt ist sehr dicht und bietet ein unglaubliches Kontrastfeld an Arm und Reich. Gentrifizierung ist ja letztendlich wie eine Art Bühne für diese Arm-Reich-Schere, die gerade auseinandergeht. Und das ist in Frankfurt einfach ganz stark sichtbar.

 

Gentrifizierung ist ein relevantes Thema in Ihrem Film... Eines, das in dieser Brisanz in fiktionalen Filmen eher selten vorkommt. Nun spielt aber auch noch die organisierte Kriminalität von kurdischen Clans mit rein, was derzeit sehr präsent in vielen Filmen ist. Die Botschaft ist: Bei solchen Schweinereien, durch die Menschen ihren Wohnraum verlieren, stecken ganz oft solche Clan-Strukturen, und gegen sind wir machtlos. Weil es da immer gleich, bzw. schnell um Leben und Tod geht.

In Ihrem Film wird vermittelt, dass man in solch einem Fall keine andere Wahl hat, als auszuziehen. Dass es also keine realistische Chance gibt, mit irgendwelchen juristischen Mitteln Recht zu bekommen oder sich gegen zu jeglicher Form von Gewalt bereite Gegner zu schützen. Was hat sie dazu bewegt, diese Clan-Kriminalität mit einzuflechten?

 

FORTSETZUNG
Serie: "ATLAS"  8/8 Interview mit Regisseur David Nawrath

FOTO CREDITS:

1 ) ATLAS Filmplakat
Rainer Bock als Walter

2)  Walter (Rainer Bock) und Alfred (Thosten Merten)
© 235 Film, Tobias von dem Borne

3) Jan (Albrecht Schuch) und Karl (Johannes Gevers)
© 235 Film, Tobias von dem Borne

4) Walter (Rainer Bock)
© 235 Film, Tobias von dem Borne

5) Walter (Rainer Bock), Alfred (Thorsten Merten)
© 235 Film, Tobias von dem Borne

6) Roland (Uwe Preuss), Walter (Rainer Bock)
© 235 Film, Tobias von dem Borne

7) Moussa (Roman Kanonik)
© 235 Film, Tobias von dem Borne


FILM CREDITS:

ATLAS

100 Minuten
FSK-Freigabe "Freigegeben ab zwölf Jahren"
Regie
David Nawrath
Darsteller
Rainer Bock (Jan), Albrecht Schuch (Jan), Thorsten Merten (Alfred), Uwe Preuss (Roland),
Roman Kanonik (Moussa), Nina Gummich (Julia)
Drehbuch
David Nawrath, Paul Salisbury
Musik
Enis Rotthoff
Kamera
Tobias von dem Borne
Schnitt
Stefan Oliveira-Pita
Casting
Silke Koch
Produktion
23/5 Film - Britta Knöller, Hans-Christian Schmid
Verleih
Pandora Film