Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. Mai 2019, Teil
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt, ist eines der beliebtesten Schillerzitate, schon deshalb weil Nachbarschaftsprobleme immer von der wissenden Erfahrung gesättigt sind, daß man selbst der oder die Gute sei, der Nachbar aber eben der Böse oder wie hier: die Böse.
Nun geht es in der Siedlung der besseren Einfamilienhäuser am Rande von Reykjavik nicht um Fromme, aber sonst ist alles zutreffend, so daß wir auf die nächste Lebensweisheit, die Nachbarn mit Gärten alle kennen, zu sprechen kommen: den Baum. Er ist – auch ohne Nachbarn – der gegenständliche Begriff, der als Metapher so häufig genutzt wird wie kein anderer, was sich in unseren Sprüchen, Lebensweisheiten und Zitaten wiederfindet: Da will einer noch einen Apfelbäumchen pflanzen, wenn er wüßte, daß morgen die Welt unterginge (ob das Luther wirklich gesagt hat, ist hier unerheblich)..aber auch: Wer den Baum gepflanzt hat, genießt selten seine Frucht. Und est recht die in die Pädagogik übernommene gemeine Weisheit: „Den Baum muß man biegen, so lange er jung ist.“ Aber auch, daß je höher der Baum, desto tiefer sein Fall ist, macht nachdenklich. Und „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, ist auch wieder ein Sinnspruch, der für die Menschen gilt. Bäume und Schatten ist eine für Sprüche bevorzugte Kombination. Auf unseren Film bezogen, heißt es, daß man den Baum seines Schatten wegen ehre. Das sagen sicher die Menschen im Süden, nicht unbedingt die in Island. Und schon gar nicht die Nachbarn von Inga, um die es bald geht. Aber wir müssen noch weiterforschen, warum denn hier der Zankapfel zwischen Nachbarn ein Baum wird.
Daß DER BAUM sprachlich so viele Zuschreibungen in so unterschiedlicher Richtung erhalten hat und dies in den Kulturen der ganzen Welt, hat natürlich Gründe. Die liegen in den Mythen und Religionen dieser Kulturen. Der Lebensbaum, auch Weltenbaum genannt, faßt alles zusammen, was dann symbolisch die Wurzeln vom Stamm, dem Astwerk, den Blüten, den Blättern, der Krone, den Früchten trennt, die je unterschiedliche Funktionen erhalten. Wir Deutschen wissen, daß insbesondere die Germanen mit ihren Götterhainen eine Herausforderung für die neue Religion, das Christentum, wurden, so daß das von den germanischen Göttern nicht geahndete Fällen heiliger Bäume wie die Donareiche durch Bonifatius, die neue Religion zum Sieger erklärte.
Aber ein Baum steht auch am Beginn der christlichen Lehre, wenn Adam und verbotenerweise die Frucht vom Baum der Erkenntnis genießen und nach dem Sündenfall, wenn sie nun, ihre Nacktheit erkennend, sich mit dem Blatt des Feigenbaums bedecken, ist der nächste Baum gefragt. Und tatsächlich werden in der Bibel noch viele weitere Bäume mit ihrer Wirkung genannt und selbst das Kreuz, Symbol des Christentums, ist aus Holz! Wir hören schon auf, obwohl wir auch im Buddhismus....
Von all diesen Überlegungen ahnt Inga (Edda Björgvinsdóttir) nichts, sie ist – ältlich geworden – noch schlechterer Laune als sonst. Und das hat mit ihrem Baum zu tun. Denn sie liebt ihn und hat sein Wachsen mitverfolgt; heute steht er prächtig da. Nein, ihre schlechte Laune kommt eben nicht vom Baum, sondern von den Nachbarn, die allen Ernstes seinen Schatten bekämpfen und fordern, die Äste so zu beschneiden, daß auf ihrer Terrasse wieder die Sonne durchkommt. Solche Weicheier. Die sollen sich nicht so haben. Ihr Mann Baldvin tritt diesen Nachbarn gegenüber nicht entschieden genug auf. Schlimmer, er fällt voll auf diese Schlampe rein, die immer so aufreizend durch die Gegend läuft. Wieder: schlimmer noch. Sie fährt mit dem Rad, tut so sportlich und modern, sie will auf ihr Alter verweisen. Die Nachbarn sind auch viel zu jung und Konrad, der Ehemann ein echter Waschlappen. Das ist die Meinung von Inga, wir Zuschauer sehen ein normales, lebenslustiges Ehepaar, das von den Nachbarn genervt ist und vom Baum auch.
Keine angenehme Zeitgenossin, diese Inga, deren unterdrückte Wut und andauernden Groll man erlebt und sofort weiß, da muß noch etwas anderes dahinterstecken. Später erfahren wir, daß ihr älterer Sohn Selbstmord verübte, womit die Eltern nicht fertig werden, auch wenn dies schon länger zurückliegt. Und der andere Sohn Atli (Steinþór Hróar Steinþórsson) , der hat gerade eine große Dummheit gemacht, obwohl das Wort Dummheit zu wenig ist. Denn er hat tatsächlich vor einem Bild seiner Exfreundin masturbiert, woraufhin er von seiner Frau Agnes rausgeworfen wird, was wir so was von verstehen können. Sie will die gemeinsame Tochter vor ihm schützen, wo soll er hin? So kommt der Trottel heim, kommt nach Hause zurück zu den Eltern. Mit diesem Ehepaar haben wir ein drittes, noch jünger als die Nachbarn und auch diese Paar hatte die ganze Zeit Nachbarschaftsprobleme, die Leute ringsum sind einfach zu laut.
Nein wir werden die Fiesheiten, die sich die Leute gegenseitig antun, jetzt nicht auflisten und auch nicht, ob diese wirklich immer auf das Konto der Nachbarn gehen. Es geht um zerstochene Autoreifen, eine vermißte Katze...aber eigentlich geht es ja gar nicht um den Schatten und den Baum. Es geht darum, wie man friedlich miteinander leben kann und wie aus falschem Bewußtsein folgerichtig ein falsches Leben wird, das auch nicht besser wird, wenn man verdrängt, was hier pausenlos geschehen ist. Das ist nach außen eine Komödie und nach innen eine bitterböse Satire oder doch besser: Groteske. In Island und überall auf der Welt. Nur sind die Leute in Island deutlicher, während der Film sehr deutlich anfängt, aber seine Schärfe dann zunehmend verliert, sich ein wenig verliert.
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Info:
Besetzung
Atli Steintór Hróar Steintórsson
Inga Edda Björgvinsdóttir
Baldvin Sigurður Sigurjónsson
Agnes Lára Jóhanna Jónsdoóttir
Konráð Torsteinn Bachmann
Eybjörg Selma Björnsdóttir
Rakel Dóra Jóhannsdóttir
Ása Sigríður Sigurpálsdóttir Scheving
Island/Dänemark/Polen/Deutschland 2017, 89 Min.