Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Juni 2019, Teil 4 a
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wieso fühlt man sich in französischen Filmen so zu Hause? Und in amerikanischen Blockbustern wie den am gleichen Tag anlaufenden neuesten X-Men (mit Recht sagt eine eine Frau im Film, es müßte eigentlich X-Women heißten) nicht!?! Ganz klar, unbehaust ist das Weltall und Irdisches auch deshalb, weil immer nur gekämpft und nie gemütlich beim Essen zusammen gesessen wird, wie in jedem, eigentlich wirklich jedem französischen Film. Fast wia im richtigen Leben, nach Polt, den wir im übrigen auch vermissen.
Und das Tolle daran ist, daß sich beim Gelegenheitsgeschwatze an der großen Freundestafel – mal bei dem einen, mal bei der anderen – so nebenbei mehr an Lebenseinsichten und vor allem auch Veränderungen des als sicher im eigenen Leben Geglaubten auftreten, als in jedem dieser synthetischen und als neu verkauften abgestandenen Leinwandschinken in 3D. Doch, auf dem Hintergrund der seelen- und sinnlosen X-Men erkennt man erst, wieviel Leben, wieviel echte Erfahrungen, wie viel Esprit in diesem Film ZWISCHEN DEN ZEILEN steckt, der Altbekanntes vorführt: Ehemänner betrügen ihre Frauen, Ehefrauen ihre Männer, junge Ehrgeizige verführen ihre Chefs oder lassen sich verführen, nur eine, die ist als Person völlig neu. Das ist Valérie (Nora Hamzawi), die erstens ihren Chef, einen Politiker managt, wofür sie bezahlt wird und zweitens ihren Ehemann Léonard (Vincent Macaigne) mit Leib und Seele zusammenhält, wofür sie nicht bezahlt wird, sondern umgekehrt, sogar ihn finanziell unterstützen muß. Denn er ist Schriftsteller, konnte sich für erfolgreich halten, aber inzwischen hat jedes seiner Bücher eine noch geringere Auflage.Und jetzt soll es kein neues Buch geben.
Ihn hat zum Essen sein Verleger eingeladen. So fängt das Ganze an. Und während wir dem smarten Alain (Guillaume Canet) schon ansehen, daß er mit einem Salat genug hat, langt der bärtige und stämmige Léonard kräftig zu: Vorspeise, Steak mit Beilagen und Nachtisch, so wie es sich für einen eingeladenen Schriftsteller gehört. Ob er wegen des lukullischen Genusses nicht mitbekommen hat, was jeder Zuschauer sofort ahnt: sein neuestes Manuskript soll nicht zu einem Buch werden, es rechnet sich einfach nicht.
Was drinnen steht, hatten wir schon mitbekommen, denn unverdrossen schreibt Léonard sein Leben und seine Lieben nieder, Autofiktion, worüber sich die Verflossenen ärgern. Alains Frau Selena (Juliette Binoche) nicht, denn noch hat sie mit Léonard ein Verhältnis, das am Ende des Films ausgehaucht ist, so daß wir wissen, daß sie im nächsten Manuskript deutlicher vorkommen wird, als in dem, das ihr Ehemann gerade abgelehnt hatte, wo es um eine öffentliche Befriedigung durch sie an ihm im verdunkelten Kino ging. Sie setzt sich also aus gutem Grund bei ihrem Mann für den auslaufenden Schriftsteller ein, wie überhaupt diese Frau die Freunde und auch den Film zusammenhält. Nicht nur, weil sie meistens das Essen macht, aufdeckt, abräumt, alles so nebenbei, sondern auch, weil sie in dem literarischen Milieu, in dem wir uns aufhalten, diejenige ist, die Glamour hineinbringt, weil sie in einer bekannten und beliebten Fernsehserie der weibliche Star ist, eine Krimiserie, wo sie keine herkömmliche Polizistin, sondern eine „Expertin für Krisenmanagement“ mimt, weshalb sie überall erkannt wird – und gleichzeitig damit aufhören will, weil es sie langweilt. Das macht Juliette Binoche wieder einmal prima.
Doch das Filmthema Literaturbetrieb hat längst einen Subtext: der heißt Digitalisierung. Alain will die Neuerungen nicht verschlafen, stellt eine junge Digitalisierungsbeauftragte namens Laure (Christa Théret) ein, mit der zu schlafen, er auch nicht verschläft und von der er hofft, daß sie den Verlag in neue Dimensionen bringt. Was nicht eintritt. In Europa gehen längst die Zahlen für E-Bücher zurück. Das ist nicht aus dem Film, sondern die neueste Statistik des Deutschen Börsenvereins! Man sieht also, zeitnah ist der Film schon. Und warum man, trotz voraussehbarem Verhalten, trotz voraussehbarer Dialoge, gerne dem Geschehen lauscht, hat einfach mit der Raffinesse zu tun, wie hier eigentlich Bekanntes doch wieder neu erscheint.
Höchste Zeit vom Regisseur zu sprechen. Olivier Assayas knüpft an, womit die Franzosen wie Eric Rohmer es zur Meisterschaft brachten, das Innenleben im Außenleben sinnlich erfahrbar zu machen und damit dem Zug der Zeit verhaftet zu bleiben. Das konnte er schon in PERSONAL SHOPPER vorführen, einem nachgerade richtig modernen Film, der die herkömmlichen Kulturtechniken durch Internet und Telefone übertrumpfte. Auch diesmal ist die Mischung zwischen dem ewig Gleichen (das Haus am Meer, die gemeinsamen Essen, die immer wieder ähnlichen Gespräche) am Schluß, wo alles zu Ende geht, was seinen Anfang nahm, und eben dem Neuem eine gelungene.
Was im Film passiert? Darum geht es gar nicht. Man hat 107 Minuten Leute von heute gesehen, erlebt und gehört. Und man hat sich nicht gelangweilt.
P.S. Und es bleibt dabei, diese Valérie, ist die ungewöhnlichste Person, weil sie die einzige ist, die den Tauschwert: Gefühle und Liebe nicht aufrechnet. Sie liebt ihren merkwürdigen, kindgebliebenen Léonard einfach.
Foto:
© Verleih
Info:
BESETZUNG
Alain . GUILLAUME CANET
Selena JULIETTE BINOCHE
Léonard VINCENT MACAIGNE
Valérie NORA HAMZAWI
Laure CHRISTA THÉRET
Marc-Antoine PASCAL GREGGORY
STAB
Regie & Drehbuch OLIVIER ASSAYAS
Produktion CHARLES GILLIBERT
Kamera YORICK LE SAUX
Schnitt SIMON JACQUET
Ton NICOLAS CANTIN
DANIEL SOBRINO
AUDE BAUDASSÉ