f SCREWDRIVER Poster Web 700FILMFEST MÜNCHEN vom 27. Juni bis 6. Juli 2019, Teil 22

Claus Wecker

München (Weltexpresso) - Kurios begann in diesem Jahr das zweitgrößte deutsche Filmfestival. Der bayerische  Ministerpräsident Markus Söder gab der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er hohe Ziele formulierte. Das Filmfest 
 München müsse zu Berlinale aufschließen, zudem schlug er ein »Youtuber-Festival« mit einem »Influencer Preis«  vor.  Generell werde den neuen Kommunikationskanälen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch wenn ein politisches Kalkül  die Vorschläge zu den neuen Medien verursacht haben mag (sofort denkt man an Rezos CDU-Zerstörungs-Video), so ist die stärkere Öffnung eines Filmfestivals zu den neuen Medien schon diskussionswürdig. Die Frage lautet allerdings: Ist gerade das Filmfest München der richtige Ort dafür?

Schon heute fällt auf, dass allein bei den durchweg englischen Untertiteln und den Einführungen und Filmemacherinterviews, die »q and a« genannt wurden, das Englische dominierte. Die Besucher unterhielten sich ist fast ausschließlich auf Deutsch, sprich: der Anteil ausländischer Gäste war recht gering. München ist neben einem Publikumsfestival (mehr noch als die Berlinale) gerade auch ein Branchentreff für die deutsche Kinoszene (Betreiber, Verleiher, Produzenten, Presse- und Marketingagenturen, Filmkritiker etc.). Alle lieben das Flair der Stadt im Sommer mit den zumeist gutgelaunten Münchnern und vor allem Münchnerinnen, und weil die Fachbesucherszene um ihre Existenz kämpfen muss, käme ihre eine stärkere Berücksichtigung der audiovisuellen Konkurrenz mehr als ungelegen.

Außerdem zeugt Söders Vergleich mit der Berlinale von wenig Sachkenntnis. Das Filmfest findet nämlich genau zum alten Berlinale-Termin statt. Berlinale-Chef Wolf Donner befand einst den Termin zwischen Cannes und Venedig als ungünstig und verlegte in den Winter (seitdem muss die Branche im Februar ins kalte Berlin).  Mittlerweile ist auch dieser Termin durch die immer weiter vorrückende Oscarverleihung problematisch geworden.

Zurück nach München: Man hat dort aus dem schwierigen Termin das Bestmögliche gemacht und zeigt vorab Neues, das demnächst in die hiesigen Kinos kommt, Vernachlässigtes aus Venedig im vergangenen Jahr, Interessantes aus nordamerikanischen Winterfestivals und aus Cannes in diesem Frühjahr. Wer den finanziellen Aufwand, nach Cannes zu reisen, scheute, kam heuer, ein Vierteljahr später,  voll auf seine Kosten.

Mit PARASITE war nicht nur der Gewinner der Goldenen Palme zu sehen, die Münchner hatten sogar eine Retrospektive des Regisseurs Bong Joon Ho organisiert und ihn persönlich eingeladen. Sein gerade ausgezeichneter Film ist eine Sozialparabel, die etwas zu gemächlich in die Gänge kommt. Geschildert wird, wie eine unter unwürdigen Umständen lebende Familie sich unter Vorspiegelung falscher Identitäten als Hausangestellte bei einer wohlhabenden Familie einnistet. Die Mittel sind höchst unfair, werden aber amüsant dargestellt. Als schließlich alle in diversen Funktionen beschäftigt sind, überstürzen sich die Ereignisse, die Ho auch rasant inszeniert hat. Von Vorteil ist für den Film, dass Ho in vielen Genres zuhause ist – mit MOTHER (Madeo, 2009) im Arthouse-Krimi, mit THE HOST (Gwoemul, 2006) im Science-Fiction-Film und mit »SNOWPIERCER« (2013) im Öko-Actionfilm. Am Ende kommt auch dieses unterhaltsame Werk nicht ohne die in einem (süd)koreanischen Film häufig anzutreffenden blutrünstigen Szenen aus.

LES MISÉRABLES, der Jury-Preisträger von Cannes, ist kein Historienfilm, keine Victor-Hugo-Verfilmung. Vielmehr erinnert der Film von Ladj Ly an Betrand Taverniers L.627, der in Deutschland unter dem Titel AUF OFFENER STRASSE lief. Der Kampf gegen Drogendealer steht nicht im Vordergrund, sondern allgemein die Gewalt in den verrufenen Banlieus, in denen gleich mehrere verlorene Generationen herangewachsen sind und weiterhin heranwachsen. Wer die hohen kasernenartigen Häuser sieht, die eher industrieller Tierhaltung als wohnlichen Quartieren entsprechen, kann nur mit Sorge an die von Städteplanern hierzulande propagierten »Verdichtungen« denken. In Paris wurde schon mal intensiv verdichtet, und dies mit katastrophalen Folgen.

Kein Wunder also, dass dort Misstrauen, Respektlosigkeit und das Recht des Stärkeren herrschen. An diesem unwirtlichen Ort für Ordnung zu sorgen, ist die Aufgabe von drei Streifenpolizisten in Zivil. Damien Bonnard spielt Stéphane, genannt Pento, den Neuling im Team, der versucht, die Situation in der Pariser Vostadt möglichst unvoreingenommen zu handhaben. Seine Kollegen sind Chris (Alexis Manenti), ein rassistischer Heißspoen, und Gwada (Djebril Zonga), der durch seine dunkle Hautfarbe und die mit ihr verbundenen Erfahrungen in kniffligen Momenten die Gemüter zu beruhigen weiß. Dass aber die Lage zum Schluss extrem bedrohlich wird, können auch er oder der besonnene Stéphane nicht verhindern.
Der Film zeichnet ein beunruhigendes Gesellschaftsbild und das eindringliche Porträt eines im allgemienen Chaos Mensch gebliebenen Polizisten. Beim Kinostart wird noch ausführlich auf dieses Meisterwerk einzugehen sein.

Es waren viele gute Filme zu sehen, beispielsweise die verhaltene, aber dennoch sehr amüsante Tragikomödie THE CLIMB von und mit Michael Angelo Covino oder die Filme des hierzulande weitgehend unbekannten dänischen Dokumentaristen Mads Brügger, der selbst im Verlauf des Filmfests sehr sympathisch in Erscheinung trat.

f SCREWDRIVER Bassam Jarbawi orgZu den Entdeckungen gehörte das Erstlingswerk SCREWDRIVER (Mafak, im Titel das Plakat) des Palästinensers Bassam Jarbawi (rechts).  Vermutlich wird diese beeindruckende Darstellung eines traumatisierten Palästinensers, der nach 15-jähriger Haft in die Freiheit zuückkehrt, nicht den Weg in die hiesigen Kinos finden. Verdient hätte sie es allemal. Und ganz besonders wegen derartiger Filme lohnte sich auch in diesem Jahr der Besuch dieses Festivals.


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