Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 10

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Kracauer wendet sich also mit Entschiedenheit gegen den Irrsinn dieser Zensur – und zerreißt dann den Film. Erst schildert er den Inhalt: „Der Film sucht vorwiegend die Zustände unter den Arbeitslosen zu veranschaulichen...Die Eltern tragen kleinbürgerliche Züge und hantieren mit Sprüchen, die auf die Verhältnisse nicht mehr passen...“

 

Er setzt fort: „Hier schlägt der Film in Kritik um, in Kritik der Spießbürgerlichkeit, die resigniert...Der dritte Teil dient der Belehrung und Aufrichtung. Die Arbeitersportjugend feiert ein Sportfest...Man treibt Nacktkultur, veranstaltet Wettspiele und singt Songs, die den Willen zur Veränderung der Zustände kundgeben... Auf der Rückfahrt zur Stadt kommt es zwischen der Arbeitersportjugend und verschiedenen bürgerlichen Typen zu leider viel zu ausgedehnten Eisenbahngesprächen, in denen die Weltanschauungsgegensätze noch einmal aufeinanderprallen.“ Zu letzterem muß man dazu sagen, daß für diesen Teil des Drehbuchs allein Bert Brecht verantwortlich war, worauf Kracauer nicht eingeht.

 

Dann urteilt er messerscharf, daß der Film die Freiheit, die er außerhalb der Filmindustrie gehabt hätte, nicht nutze. „Ihre Analysen sind verschwommen, ihre Demonstrationen ermangeln der Schlüssigkeit. Die Folge? Was ein Schlag gegen die offizielle Filmproduktion hätte sein können, ist ein Schlag ins Wasser geworden.“ Das nun begründet er einleuchtend: „Der entscheidende Fehler der Filmkomposition besteht meines Erachtens darin, daß unklar bleibt, zu welchem Zweck die beiden Welten der resignierenden Erwerbslosen-Kleinbürger und der hoffnungsvollen Arbeiterjugend in der vorliegenden Form stilisiert und gegeneinander abgesetzt sind. Ich nehme es an und mutmaße darüber hinaus, daß die Verfasser durch ihre Darstellung des schlechten kleinbürgerlichen Behagens die politisch indifferenten oder rückständigen Schichten zu treffen gedachten und im Schlußteil die kommunistischen Aktivitäten verherrlichen wollten. Wenn das ihr Vorhaben war, ist ihnen jedenfalls seine Ausführung nicht gelungen.“

 

Das kann man gut nachvollziehen, wenn das gegnerische Spießerleben von Arbeitern derart karikiert wird und dies zum Hauptteil des Films wird, wie nämlich eine orientierungslose Arbeiterschaft sich in Saufen und Fressen als klassengemäßen Ausschweifungen hingibt. Der Film „traktiert die Völlerei nicht zornig oder bekümmert, sondern schlechthin gehässig und verhöhnt obendrein wie irgendein mondäner Gesellschaftsfilm die kleinbürgerlichen Eßmanieren. Das ist unberechtigt angesichts der Lage, in der sich die Erwerbslosen befinden, und verstößt auch wider das Interesse der Solidarität.“ Es folgen weitere kluge Sätze und die Leserin fragt sich, ob die damaligen Leser nicht ähnlich gegen den Autor hätten empfinden können und sich ausdrücken müssen.

 

Daß nämlich eine derartige scharfe Kritik – wie gesagt, gut nachvollziehbar – auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation von 1932 auch hätte empfunden werden können als 'unberechtigt angesichts der Lage, in der sich Fortschrittliche, Aufbegehrende, auch Kommunisten befinden“ und ob eine derartige scharfe Kritik nicht „wider die Interessen der Solidarität verstoßen“. Wir wissen zu wenig über die Rezeption der Kracauerkritik durch die, die als Filmemacher gemeint waren. Wissen aber, daß sich solche deutlichen Worte eines Kritikers oft gegen diesen selbst richten lassen. Kracauer schließt, nachdem er die Zensurgründe auseinandergenommen hat, mit: „Die Hoffnung bleibt, daß die Oberfilmprüfstelle“ - die kann die vorgenommene Zensur aufheben - „den Film doch noch freigibt. Wir wünschen die Aufhebung des Verbots, weil die Öffentlichkeit mündig genug ist, um sich mit einem Werk dieser Art selber auseinanderzusetzen.“

 

Stattdessen wurde das Verbot bekräftigt und der Film erst nach dem Wegfall von 40 Metern und einem Jugendverbot am 21.4. 32 erlaubt, was die Nazis umgehend elf Monate später, am 23. März 1933 kassierten. Irgendetwas an diesem Film muß von den Zuschauern doch, wie von den Filmemachern gewollt, aufklärerisch und militant progressiv verstanden worden sein. Und auch das fühlt man während des Zuschauens. Ein interessanter Film also, den länger zu untersuchen sich lohnt, was wir alles den GINSTERwochen verdanken.

 

 

INFO:

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag 2013

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg 2013

 

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag 2013

 

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag 2008

 

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

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